HELMUT BURKHARDT (23.1.1939 – 25.1.2022)

Foto: Michael Gross

Helmut Burkhardt wurde 1939 in Breslau geboren, damals die drittgrößte Stadt des Deutschen Reiches. Er wuchs in einem bürgerlichen, kulturbewussten Elternhaus auf. Es vermittelte ihm vor allem die Liebe zur Musik, die er dann auf geradezu professionelle Weise mit seiner Frau Heidi gepflegt hat. Zum christlichen Glauben kam er als Zwanzigjähriger durch die missionarische Bewegung der „Fackelträger“. Diese durch Gott erfahrene persönliche Lebenswende hat er dann später auch in mehreren Büchern theologisch reflektiert: Das biblische Zeugnis von der Wiedergeburt (1974, 21981), Die biblische Lehre von der Bekehrung (1978, 21985) und zusammenfassend in: Christ werden – Bekehrung und Wiedergeburt – Anfang christlichen Lebens (1999).

Nach einem anfänglichen Studium der Altphilologie wechselte Helmut Burkhardt ganz zum Studium der evangelischen Theologie zuerst in Kiel und dann in Tübingen. Dort wurde der Neutestamentler Professor Otto Michel (1903-1993) sein prägender Lehrer. Von da her hätte eine Spezialisierung im Neuen Testament nahe gelegen. So hat mir Burkhardt auch später das unveröffentlichte Manuskript eines Artikels über Jesus-Überlieferungen bei Paulus zugänglich gemacht, das wegweisend für meinen eigenen Zugang zu dieser Frage geworden ist. Eine späte Frucht dieser Arbeitsphase war das kleine, aber hilfreiche Buch „Wie geschichtlich sind die Evangelien?“ (1979).

Nach einem zweijährigen Vikariat und der Ordination zum Pfarrer in der damals noch bestehenden Landeskirche von Eutin wurde Helmut Burkhardt von 1967-1976 theologischer Referent der „Pfarrer-Gebetsbruderschaft“. Eine seiner Hauptaufgaben war die Durchführung von theologischen Ferienseminaren, die zweimal jährlich, eingebettet in die kurhessische Kirchengemeinde Rengshausen und später in die hessisch-nassauische Kirchengemeinde Holzhausen, stattfanden. Um den Rengshäuser Pfarrer Otto Rodenberg sammelte sich ein Kreis von jüngeren Theologen, zu dem neben Helmut Burkhardt auch Helgo Lindner, Assistent von Otto Michel, Klaus Haacker, später Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, und Hermann Hafner (Karl-Heim-Gesellschaft) gehörten. Es gab in ihrer theologischen Arbeit vor allem drei Schwerpunkte: die Auseinandersetzung mit dem damals einflussreichen Programm der Entmythologisierung und existentialen Interpretation des Neuen Testaments, wie es Rudolf Bultmann vertrat, die Aktualisierung des theologischen Erbes von Adolf Schlatter und – seinerzeit noch alles andere als selbstverständlich – ein Ernstnehmen des antiken und modernen Judentums.

Bis zur Begründung mehrerer theologischer Studienhäuser waren diese Ferienseminare eine von vielen genutzte Möglichkeit, Alternativen zu Mehrheitsmeinungen an den Fakultäten kennen zu lernen. Auch für mich wurden mehrere dieser Veranstaltungen prägend. Ich hatte ursprünglich, auch aufgrund des Kontaktes mit Hans Walter Wolff in Heidelberg, eine Spezialisierung im Alten Testament erwogen. Aber dann überzeugte mich Helmut Burkhardt in Gesprächen, die sich manchmal in die Nacht hineinzogen, dass ein Gegenentwurf zur vorherrschenden skeptischen Sicht der Geschichtlichkeit der Evangelien dringend notwendig sei. Er machte mich mit der skandinavischen Forschung (H. Riesenfeld, B. Gerhardsson) bekannt und so entstand mein Dissertationsprojekt „Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung“ (1981, 31988).

Aus der Arbeit der Ferienseminare heraus wurden 1970 die „Theologischen Beiträge“ begründet, die bis heute eine der auflagenstärksten theologischen Fachzeitschriften sind. Helmut Burkhardt war von 1970 bis 2014 Mitherausgeber und hat mit großer Zuverlässigkeit und klarem Urteil Manuskripte bewertet. Er hätte gewiss selbst noch mehr veröffentlichen können, aber in der ihn kennzeichnenden Selbstlosigkeit hat er viele Aufgaben und Ämter übernommen, in denen er anderen diente. So wurde er von 1977-1993 erster Vorsitzender des „Arbeitskreises für evangelikale Theologie“, der im Zusammenhang mit dem Lausanner Kongress für Weltevangelisation von 1974 auf Anregung des bedeutenden anglikanischen Theologen John Stott entstanden war. Die Gründung hat entscheidend dazu geführt, dass aus diesem Bereich diskussionsfähige Beiträge vorgelegt werden, auch wenn das noch nicht alle aus dem universitären Establishment wahrhaben wollen. Als Mitglied im Beirat der „Theologischen Verlagsgemeinschaft“ (1980-2014) förderte Burkhardt das Erscheinen qualitätsvoller Literatur. Unter seinen zeitaufwändigen Herausgeberschaften sind besonders das „Evangelische Gemeindelexikon“, „Das Große Bibellexikon“ und die erste Ausgabe des „Evangelischen Lexikons für Theologie und Gemeinde“ zu nennen.

Auf einem Ferienseminar begegnete Helmut Burkhardt dem Ethik-Spezialisten Klaus Bockmühl. Als dieser 1977 zum Professor am evangelikalen Regent College in Vancouver/Kanada berufen wurde, hat Burkhardt seine Stelle als Dozent für Systematische Theologie und Ethik am Theologischen Seminar St. Chrischona/Schweiz übernommen und dort bis 2008 ganze Prediger-Generationen geprägt. 1988 wurde Burkhardt in Göttingen bei dem Qumran-Fachmann Hartmut Stegemann mit einer Dissertation über „Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien“ (21992) promoviert. Es war die Vorarbeit zu einem Thema, das Burkhardt immer wieder beschäftigt hat, eine historisch und theologisch verantwortete Lehre von der Heiligen Schrift. In seine Zeit auf St. Chrischona fielen auch die Bemühungen, an der Universität Basel eine theologische Stiftungsprofessur mit pietistischer Prägung wieder zu beleben. Nachdem Klaus Bockmühl aus gesundheitlichen Gründen absagen musste, wurde ich als Kandidat vorgeschlagen. Für dieses Vorhaben hat sich Burkhardt ebenfalls selbstlos eingesetzt, auch wenn es letztlich scheiterte. Von 1999-2004 übernahm er das Amt eines Vorstehers des Diakonissen-Mutterhauses von St. Chrischona mit der Absicht, wie er mir selbst sagte, sich überflüssig zu machen. Er war nämlich der Überzeugung, dass eine Schwesternschaft von Schwestern geleitet werden sollte.

Das größte theologische Vermächtnis Helmut Burkhardts ist wohl seine dreibändige Ethik: I. Einführung in die Ethik. Grund und Norm sittlichen Handelns [Fundamentalethik] (1996, 32012); II/1. Das gute Handeln. Allgemeine Materialethik: Religionsethik, Lebensethik, Sozialethik (2003); II/2. Das gute Handeln. Allgemeine Materialethik: Sexualethik, Wirtschaftsethik, Umweltethik, Kulturethik (2008, 22014); III. Die bessere Gerechtigkeit. Spezifisch christliche Materialethik (2013). Es sind vor allem zwei Dinge, die diesen Entwurf zu einer Besonderheit machen. Burkhardt unterscheidet zwischen einer „allgemeinen Ethik“, die für alle Menschen gilt, und einer „spezifisch christlichen Ethik“, zu der die besondere Gemeinschaft (koinōnia), Gottesdienst und Gebet (leiturgia), Verkündigung und Zeugnis (martyria) und der christliche Dienst (diakonia) gehören. Kaum zu übertreffen ist die jeweilige biblische Verankerung ethischer Urteile sogar bei sehr modernen Phänomen. Auch sonst hat die evangelikale Bewegung Helmut Burkhardt viel zu verdanken. Eine Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hat er leider nicht mehr veröffentlicht, weil er an sich selbst hohe Qualitätsansprüche stellte. Aber mein treuer Freund Helmut wusste, dass wir nicht aus der Rechtfertigung durch unsere Werke leben, auch nicht durch die theologischen, sondern aus der Gnade dessen, der ihn als Zwanzigjährigen in seine Nachfolge berufen und in einem sechs Jahrzehnte langen Dienst gesegnet hat.

Prof. Dr. theol. habil Rainer Riesner (Gründungsmitglied des AfeT, bis 2013 Professor für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie der Universität Dortmund)