Von Luther und Wesley zum globalen Evangelikalismus

Nachdem die Jahrestagung der Facharbeitsgruppe Historische Theologie im März 2020 die letzte Präsenztagung des AfeT vor dem Corona-Lockdown war und die Jahrestagung 2021 als Online-Tagung stattfand, sollte die Jahrestagung 2022 eigentlich wieder zur Normalität des gemeinsamen Tagens vor Ort zurückkehren. Doch die Wetterkapriolen des 1. Aprils führten dazu, dass die Tagung am 2. April 2022 unter dem Vorzeichen starker Schneefälle, Zugausfälle und –verspätungen stand, wodurch bei den 11 Teilnehmer/innen, die sich schließlich aus dem schneereichen Norden und Süden nach Gießen durchgekämpft hatten, beinahe ein Pioniergefühl aufkam. Spontan tagte die Facharbeitsgruppe dann hybrid, um diejenigen, die nicht in Gießen ankamen, wenigstens via Bildschirm teilhaben zu lassen.

Auf die Spuren von geistlichen Pionieren führte der erste Referent, Dr. Gottfried Sommer (Trossingen), mit seinem Vortrag „Das Problematische am Erbe der Heiligungsbewegung für die deutsche Pfingstbewegung“.  Er stellte die These auf, dass das, was die sog. Berliner Erklärung (1909) an der Pfingstbewegung verurteilte, nicht neue Charakteristika einer deutschen Pfingstbewegung waren, sondern sich darin vielmehr das problematische Erbe zeitlich vorausgehender geistlicher Entwicklungen vom Methodismus bis zur Heiligungs- und Heilungsbewegung zeigte. Gottfried Sommer belegte diese These mit einer literaturgesättigten Untersuchung des Heiligungsverständnisses seit John Wesley. So kann John Wesley (1703–1791) als Ausgangspunkt unterschiedlicher Bewegungen gesehen werden, die die Forderung der Heiligung des christlichen Lebens übernahmen. Kannte Wesley in seiner Lehre von der Heiligung (Christian perfection) zwei unterschiedliche Erfahrungen der Gnade (die Erfahrung der Sündenvergebung und die Erfahrung der christlichen Vollkommenheit/Heiligung als second blessing), entwickelten spätere (methodistische) Theologen die Lehre von der Erfahrung der Heiligung mit unterschiedlichen Akzenten weiter. So verstand der Methodist John William Fletcher (1729–1785) diese Erfahrung als den Augenblick, in dem der Gläubige die Ausgießung des Heiligen Geistes erlebt (und nahm damit eine pfingstliche Hermeneutik vorweg). Die Mutter der Heiligungsbewegung, Phoebe Worral Palmer (1807–1874), erfuhr nach Selbstzeugnis am 26. Juli 1837 um 21.00 Uhr ihre „vollständige Heiligung“ und verwendete dafür in ihren Schriften den Begriff „Geistestaufe“. Mit der amerikanischen, dann europäischen Heiligungsbewegung wurde der Weg der christlichen Heiligung zu einem (datierbaren) Punkt. Die vollständige Heiligung war nicht mehr Höhepunkt und Ziel christlichen Wachstums, sondern vielmehr dessen Voraussetzung und Anfang, was der Referent mit vielen Beispielen aus der Heiligungsbewegung, darunter das Wirken Robert Pearsall Smiths (1827–1898) in Deutschland (Berlin) und der Schweiz (Basel), vor Augen führte. Im Zuge der Weiterentwicklung der Heiligungs- und auch Heilungslehre wurden körperliche Manifestationen als direktes Wirken des Heiligen Geistes verstanden, traten separatistische Tendenzen zutage und kam es auch zu theologischen ‚Auswüchsen ‘, so z.B. bei Absplitterungen amerikanischer Heiligungskreise (v.a. in Cincinnati) und beim deutschen Pfarrer Jonathan Paul zum „Kampf gegen das Fleisch“ in Form von ehelicher Abstinenz oder in der Interpretation jeglicher Krankheit als Zeichen des Unglaubens. Vor dem Hintergrund solcher theologischer Sonderlehren entstand die Berliner Erklärung im September 1909 und die harsche Kritik der pietistischen Gemeinschaftsbewegung an der Pfingstbewegung zielte damit – so die These des Referenten – auf Aspekte, die nicht genuin der Pfingstbewegung zuzuschreiben, sondern das „problematische Erbe der Heiligungsbewegung“ waren, wobei G. Sommer abschließend auch kritisch genuine Problemfelder der weltweiten Pfingstbewegung benannte. – In der regen Aussprache wurde das Verhältnis von erster, rettender Gnade und zweiter, im Glauben Kraft gebender Gnade, von punktuellem Erleben und prozesshafter Entwicklung sowie die Bedeutung persönlicher Glaubenserfahrung diskutiert. 

Der zweite Beitrag führte in eine andere kirchengeschichtliche Periode und von der Soteriologie in die Christologie. Timo Schäfer (Bonn) untersucht in seiner an der evangelisch-theologische Fakultät der Universität Bonn entstehenden Dissertation Luthers Auslegung der Evangelientexte in seinen Predigten und fragt dabei nach Luthers Rezeption bzw. (christologischen) Zurückweisung mittelalterlicher Mystik. Angesichts der ca. 2000 in Mitschriften überlieferten Predigten Martin Luthers bot der Referent an dieser Stelle nur einen kleinen Einblick in „Martin Luthers Wartburgpostille im Dialog mit Bernhard von Clairvaux“. Luther verfasste diese deutsche Postille, eine Sammlung von Predigten für die Advents- und Weihnachtstage 1521/22 auf der Wartburg als Musterpredigten für Prediger und zur Verlesung im Gottesdienst. Vorangestellt ist der Postille die Schrift Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll, in der sich exemplarisch Luthers Verständnis von Evangelium (als „Chronika, Historia und Legenda von Christo“) zeigt: Im Hören des Evangeliums soll der Gläubige sich Christus persönlich für sich aneignen und sich mit Christus identifizieren. Timo Schäfer führte detailliert anhand der Quellenschrift aus, dass Luther hier eine existentielle und partizipative Hermeneutik entfalte, zu der er als Vergleich und Kontrast Predigt 20 aus den Hohelied-Predigten Bernhards von Clairvaux (1090–1153) als Beispiel mittelalterlicher Christus-Mystik auslegte. Bernhard, so die These des Referenten, zeige eine Tendenz zur Loslösung vom irdischen Jesus hin zu Jesus Christus als Norm eines tugendhaften christlichen Lebens, während Luther die Person Jesus Christus als „Gabe und Geschenk“ an den Gläubigen betone und sich damit von Bernhards ethisch geprägter Christologie abgrenze.

Einen grundlegenden Überblick über die Kirchengeschichte Armeniens bot Pfr. Klaus Vogt (Demmin): „Schicksalhaftes Armenien – Leidensweg und Segensstrom“, wobei sich der erste Teil des Titels fast auf die ganze Geschichte der armenischen Kirche von der antiken Untergrundkirche bis zum Genozid 1915 beziehen lässt. Wenn sich die Armenier als erstes christliches Volk verstehen, zeigt dies, wie eng ethnische Identität und christlicher Glauben auch heute verbunden sind. Nach altkirchlicher Tradition wurden die Armenier (als ethnische Gruppe im Gebiet zwischen dem Hochland Ostanatoliens und dem Südkaukasus) durch die Apostel und Märtyrer Thaddäus und Bartholomäus missioniert und durch Gregor den Erleuchter (ca. 240–333) christianisiert. Er taufte den armenischen König und war Mitbegründer der Armenisch Apostolischen Kirche, die nicht am Konzil von Chalcedon (451) teilnahm und dessen Beschlüsse 552 auf der Synode von Dwin ablehnte. In die wechselvolle Geschichte der monophysitischen Kirche führte Klaus Vogt in großen Zügen ein, wobei er nicht bei den großen Leiderfahrungen der Armenier im Osmanischen Reich durch die Massaker von 1894/94, 1909 und 1915 stehenblieb, sondern einen – hoffnungsvollen – Blick in die gegenwärtige Situation der rund 60.000 in der Türkei verbliebenen Armenier (bei geschätzten 3 Mill. in der Diaspora) gab, wo seit einigen Jahren in einer konfessionsübergreifenden Initiative die Ausbildung von armenischen Theologiestudenten am Martin-Bucer-Studienzentrum in Istanbul möglich ist.

In weltweite Entwicklungen des Christentums führte schließlich der Beitrag von Dr. Wolfgang Reinhardt (Kassel) zu „Dynamik und Demographie des globalen Evangelikalismus“. Anhand aktueller Datenbefunde und Auswertung der neuesten Literatur zeigte der Referent die nicht zu leugnende „Dynamik“ innerhalb der Christenheit, konkret die Verschiebung des Christentums in den globalen Süden: So leben heute, prozentual betrachtet, 67% aller Christen im globalen Süden (Afrika, Lateinamerika, Asien), und dieser „shift to the global South“ sei, so Reinhardt, eine Frucht der pietistischen und evangelikalen Erweckung und Mission des 18.-20. Jahrhunderts. Wolfgang Reinhardt führte in drei neuere Definitionen von Evangelikalismus ein (David Bebbington, George Marsden, Stuart Piggin) und stellte anschließend die demographischen Methoden zur Bestimmung und Messung von Evangelikalismus vor. So verfolgt die World Christian Encyclopedia mit der dazugehörigen Online-Datenbank einen strukturellen Ansatz der Selbstdefinition, d.h. sie kennt drei Gruppen: Denominationen, die zu 100 % evangelikal sind, und solche, die nicht zu 100% evangelikal sind, sowie Evangelikale, die keiner Denomination angehören. Dagegen verwenden die Statistiken der Operation World theologische Kriterien (grob nach D. Bebbingtons Viereck: crucicentrism, biblicism, conversionism, activism) zur Bestimmung von evangelikaler Zugehörigkeit. Bei allen Unterschieden der Demographie ist aber – das demonstrierte Reinhardt mit Fakten und Zahlen – deutlich zu erkennen, dass heute die evangelikale Bewegung weltweit eine nicht-weiße Bewegung des globalen Südens ist, was dem Bild in den säkularen Medien (Fokus auf politisch-konservative weißen Evangelikale in den USA) widerspricht. Die Attraktivität des Evangelikalismus erklärte der Referent unter Berufung auf Studien von Todd Johnson und Mark Noll u.a. mit der Integration von Evangelisation und sozialem Handeln und durch ein persönlich-individuelles Erweckungschristentum, das zugleich eine große Flexibilität in seinen Ausdrucksformen zeigt. – Die abschließende Diskussion über die Unterscheidung von evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Christen nahm den ersten Beitrag des Tages wieder auf und führte erneut zur Frage nach den historischen Wurzeln der unterschiedlichen Formen des (erwecklichen) Christentums, eine immer wieder neu in den Blick genommene Frage der Facharbeitsgruppe Historische Theologie.

6.4.2022, Ulrike Treusch