Die diesjährige Tagung der Facharbeitsgruppe Altes Testament traf sich vom 18. bis zum 20. Februar in Braunfels. Mit 34 Teilnehmern war sie gut besucht. Das Programm bot neben fünf anregenden Vorträgen reichlich Möglichkeiten zur Begegnung und zum Austausch.

Im ersten Vortrag am Sonntagabend sprach Walter Gisin über die „Entstehung der prophetischen Schriften und ihre Unveränderlichkeit“. Er verglich dazu altbabylonische und neuassyrische Orakeltexte, das Bileam-Orakel sowie altgriechische Orakelschriften. Orakel seien in der Regel zu Lebzeiten des Propheten verschriftlicht worden. Nach der Verschriftlichung seien lediglich formale Änderungen erlaubt gewesen. Fiktive Prophetie habe stets als riskant gegolten, weil sie zum einen göttlichen Zorn nach sich zog und zum anderen als Täuschung identifiziert und dann vehement abgelehnt werden konnte. Gisin betonte zudem, dass die Namen der Propheten in Israel wie in Mesopotamien von Anfang an mit ihren Orakeln verbunden wurden. Nach Gisin widersprechen diese Befunde diachronen Hypothesen zur Entstehung der alttestamentlichen Prophetenschriften, die die Forschung lange dominiert haben. Gisin stellte zudem fest, dass viele Forscher inzwischen die literarische Einheit prophetischer Bücher in den Vordergrund stellen.

Am Montagvormittag hielt Immanuel Martella das Referat „Wenn Geschwister beisammen wohnen: Eine narratologische Untersuchung der Geschwisterrivalitäten im Alten Testament“. Er stellte darin Ergebnisse seiner Masterthesis vor und gab zugleich einen Ausblick auf sein Dissertationsprojekt. Inhaltlich ging es zunächst um Geschwisterrivalitäten in Genesis. Diese seien zwar bereits gründlich erforscht worden. Dabei haben die literarischen Motive, die diese Erzählungen verbinden, jedoch noch nicht genügend Aufmerksamkeit bekommen. Unter dieser Fragestellung untersuchte Martella die Rivalitäten zwischen Kain und Abel, Jakob und Esau sowie Josef und seinen Brüdern. Dabei stellte er fest, dass auch bei unterschiedlichen Entwicklungen (vgl. etwa den Mord Abels mit der letztlichen Versöhnung zwischen Jakob und Esau) ähnliche Motive zum Einsatz kommen. Selbst Lexeme, die sich notwendig aus dem Inhalt der Episoden ergeben, seien so eingesetzt, dass sie auf intentionale Verbindungen schließen lassen. Martella schloss daraus, dass die Geschwisterrivalitäten in der Genesis ein sorgfältig gestaltetes literarisches Netzwerk bilden. Anschließend erläuterte Martella, wie er diese Fragestellung in seiner Promotion auf das gesamte Alte Testament ausweiten und mit einem Fokus auf narrativer Ethik untersuchen wird. Die folgende Diskussion bot Gelegenheit für Rückfragen und Anregungen, gerade auch im Blick auf die Methodik und Eingrenzung der Dissertation.

Klaus Riebesehls Vortrag „Jona für sich gelesen“ befasste sich mit der Struktur von Jona, insbesondere mit der Stellung von Jonas Psalm in Kapitel 2. In Bezug auf die Frage, ob Jona als eigenständiges Buch oder als Schrift innerhalb des Zwölfprophetenbuches zu lesen ist, mahnte er dagegen, diese als einander ausschließende Ansätze zu sehen. Allerdings plädierte er damit zugleich dafür, in einem ersten Schritt das Jonabuch für sich zu lesen, wie schon der Titel des Vortages andeutet. Im Rahmen dieses Ansatzes untersuchte Riebesehl die Struktur des Jonabuches. Dazu verwies er u. a. auf Stichwortverbindungen, thematische Entwicklungen und Chiasmen. Riebesehl hob hervor, dass die zwei Hauptteile (Kap. 1-2, 3-4) jeweils dreigeteilt und parallel angeordnet sind. Die Buchstruktur habe Implikationen für die Stellung von Jonas Gebet in Kapitel 2. Während viele Forscher dieses aufgrund stilistischer und inhaltlicher Differenzen für sekundär halten, deuten einige Beobachtungen darauf hin, dass er zur Erzählung dazugehört. Das Gebet habe Stichwortverbindungen zu Kapiteln 1 und 4. Zudem entwickele es einzelne Motive aus Kapitel 1 weiter, insbesondere Jonas Abstieg.

Am Abend berichtete Jürgen Schultz in dem Vortrag „Semantik בושׁ / Themenfeld ‚Scham‘“ über sein Promotionsprojekt zur Semantik von Scham im Alten Testament. Er konzentriert sich darin auf בושׁ und verwandte Lexeme in hebräischen und akkadischen Texten unter Anwendung der Frame Semantik. Schultz erklärte diese Methode und demonstrierte sie anhand der Vorkommen von בושׁ im Alten Testament. Dabei erweise sich בושׁ als existentiell erfahrenes Defizit, das möglicherweise durch eine andere Person ausgelöst ist. Dieser Ansatz soll zur Erhellung der alttestamentlichen Begriffe beitragen, um die Diskussion zu den sozialen und theologischen Dimensionen von Scham auf eine stabilere Grundlage zu stellen. Es folgte eine fruchtbare Diskussion über semantische und soziale Aspekte der Fragestellung.

Am Dienstagvormittag widmete sich Gert Kwakkel im letzten Vortrag der Frage „Was bereut Hiob in Hiob 42,6?“ Die herkömmliche Auslegung, wonach Hiob seine vorigen Aussagen bereut und verwirft, ist in vielen Übersetzungen vertreten. Doch andere Ausleger bevorzugen Interpretationen, die Hiob in seiner Auseinandersetzung mit Gott Recht geben und einen Widerruf seinerseits vermeiden. Syntax und Semantik in Vers 6 seien nicht eindeutig: Einige Exegeten lesen das erste Verb als מסס statt מאס; das zweite Verb, נחם nif., erlaubt verschiedene semantische Optionen; schließlich werfen auch die folgende Präposition על und der entsprechende Ausdruck „auf Staub und Asche“ Fragen auf. Um die exegetischen Möglichkeiten einzugrenzen untersuchte Kwakkel neben dem literarischen Kontext im Hiobbuch auch ähnliche Ausdrücke im Alten Testament. Als Lösung schlug er vor, beide Verben auf dasselbe Objekt, „Staub und Asche“, zu beziehen. Letztere stünden dann metaphorisch für frühere Aussagen, die Hiob nun als wertlos betrachtet. Im Blick auf die Interpretation des Buches sei diese Auslegung nicht völlig anders als die traditionelle Deutung. Hiob verwerfe die Art und Weise, wie er seinen Freispruch erreichen wollte, ohne seinen Freunden Recht zu geben.

Am Montagnachmittag besuchten einige Teilnehmer Weilburg. Die Altstadt zeichnet sich durch den barocken Baustil aus, der auf die Umgestaltung der Stadt unter Graf Johann Ernst (1664-1719) zurückgeht. Pfarrer Guido Hepke von der Evangelischen Kirchengemeinde Weilburg referierte freundlicherweise über den Bau der Schlosskirche im 18. Jahrhundert und ihre gegenwärtige Nutzung.

Ein besonderer Höhepunkt der Tagung war auch der kommunikative Austausch am Montagabend. Bei dieser Gelegenheit konnten drei neue akademische Titel gefeiert werden, die abgeschlossenen Promotionen von Gabriele Braun und Daniel Lanz sowie Hans-Georg Wünchs Professur an der University of South Africa.

Ergänzend fand am Dienstag wieder ein Literaturaustausch statt, bei dem zahlreiche wertvolle Hinweise auf neuere Publikationen geteilt wurden.

Die nächste Tagung der FAGAT wird am 17.-19. Februar in Braunfels stattfinden. Herzliche Einladung!

 

Daniel Lanz