Aus englischsprachigen evangelikalen Zeitschriften

A.D. Baum

Im vergangenen Jahr rief die Zeitschrift Notes on Translation (14/4 [2000] 56) ihren Lesern einige Beobachtungen in Erinnerung, die W. Ward Gasque bereits 1990 anlässlich des Todes seines Lehrers F. F. Bruce (1910–1990) in Christianity Today angestellt hatte:

„Die Bibelwissenschaften sehen heute ganz anders aus als in der Jugendzeit von F. F. Bruce. Die Qualität der evangelikalen Beiträge ist heute höher als je zuvor ... Trotzdem gibt es einige Schwachpunkte.

Erstens haben Bibelwissenschaftler die Neigung, sich intensiver mit der Sekundärliteratur als mit den Primärquellen zu befassen. Auch die Lehrveranstaltungen evangelikaler Ausbildungsstätten erschöpfen sich häufig in Diskussionen darüber, was verschiedene Forscher über die Bibel geschrieben haben. Wir sollten uns auf die Methode zurückbesinnen, die Bruce in der Altphilologie gelernt hat: Bevor man sich den aktuellen Büchern der modernen Interpreten zuwendet, muss man auf die Worte der antiken Autoren hören.

Zweitens wird die Bedeutung der biblischen Sprachen unterschätzt. Bruce konnte nicht verstehen, dass manche, die sich in den vollzeitlichen Verkündigungsdienst gerufen wussten, weder Hebräisch noch Griechisch lernen wollten. Er beherrschte nicht nur diese Sprachen, sondern kannte den Originalwortlaut der ganzen Bibel auswendig ...

Drittens werden das Alte und Neue Testament oft von einander getrennt. Die Fächer Altes und Neues Testament werden von Spezialisten vertreten, die untereinander wenig Austausch pflegen. Das entspricht zwar der säkularen Fragmentierung des Wissens. Bruce war jedoch der Meinung, eine gründliche Kenntnis der hebräischen Bibel sei für die Interpretation des Neuen Testaments unverzichtbar.“

In einem Interview mit der Zeitschrift Themelios (26/1 [2000] 48–53) kam I. H. Marshall kürzlich auf ähnliche Themen zu sprechen: „Es ist extrem schwierig geworden, die enorme Menge an Neuveröffentlichungen zu bewältigen. Ich wünschte mir ein zehnjähriges Publikations-Moratorium für theologische Bücher (außer für meine eigenen natürlich), um all das aufholen zu können, was ich nicht gelesen habe. Und ich sehe in meiner Emeritierung die Gelegenheit, all das nachzuholen, was ich in der Vergangenheit nicht geschafft habe ... Vielleicht brauchen wir Leute, die im altmodischen Sinne Gelehrte sind und keine Forscher. Meiner Ansicht nach besteht ein deutlicher Unterschied zwischen einem Gelehrten, der ein breites Wissen über viele Gebiete besitzt und diese miteinander verknüpfen kann, und einem Forscher, der sich immer tiefer in ein begrenztes Gebiet einarbeitet und es nie verlässt. Sicherlich muss die Systematische Theologie auf die Ergebnisse der Bibelwissenschaften zurückgreifen. Und die Bibelwissenschaftler müssen im Kontext systematischer Fragestellungen arbeiten. Auch die Verknüpfung von Altem und Neuem Testament darf nicht vernachlässigt werden. Zu oft werden die beiden Testamente unabhängig von einander behandelt. Ein Fachmann, der sich in beiden Bereichen auskennt, ist eine große Seltenheit geworden.“

Die abschließende Frage des Interviews lautete, welches der wichtigste Rat sei, den Prof. Marshall evangelikalen Studenten und Theologen geben könne: „Ihr müsst so gut wie irgend möglich den Umgang mit den Quellen beherrschen lernen. Wenn ich noch mal anfangen könnte, würde ich mich viel gründlicher mit der Umwelt des Neuen Testaments befassen, denn daraus ergeben sich häufig neue Erkenntnisse. Inzwischen ist soviel Material vorhanden, dass die Aufgabe enorm ist. Aber wir müssen uns so gut wir können mit den Primärquellen befassen ...“.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 7/2 (2001)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie

24.12.2001
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