Theoria, Psalmen, Schriftlehre und falsche Götter

Das Doktoranden- und Habilitandenkolloquium

Uwe Rechberger

Grund zur Freude bietet die qualitative und quantitative Entwicklung des AfeT-Doktoranden- und Habilitandenkolloquiums: Am 16./17. März 2001 trafen sich 18 Teilnehmer im Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen, um miteinander Gemeinschaft zu haben und sich über die verschiedensten Forschungsprojekte auszutauschen. Durch vier qualitativ hochwertige Vorträge wurde die Anfahrt vierfach belohnt und den Referenten bot sich ein Forum, das sich konstruktiv auf die Arbeiten in ihrem jeweiligen Stadium einließ.

Die Theoria, das Hören, das eine Schau ist

Am Freitag referierte zunächst Vasile Hristea. Das Referat „Die Theoria, das Hören, das eine Schau ist“, greift einen Gedanken auf aus der Dissertation „Kommunikation und Gemeinschaft. Ein orthodox theologischer Beitrag zu einer Theologie der Kommunikation“. Der Leitfaden dieser Dissertation, die kommunikative Verwirklichung des Menschseins, wird anhand des gott-menschlichen Dialogs mittels der Schöpfung, der Schrift und der Eucharistie geführt. Daraus ergibt sich, dass die Kommunikation eine werdende Gemeinschaft ist. Diesem Gedanken entspricht auch das Thema des Referates. In der Orthodoxie wird die Schrift, soweit sie als Kanon Objekt der Entscheidung der Kirche ist, als eine Teilhabemöglichkeit an dem fleischgewordenen Wort Gottes verstanden. Dabei führt das inspirierte Zeugnis der Schrift den Leser im Hl. Geist auf ein Sehen, theoria, des schon einst Geschauten Herrn (1Joh 1,1ff). Aus der Anrede Gottes in der Schrift ist die theoria somit ein Hören, das eine Schau ist. Diese hermeneutische Ansicht setzt sich mit dem Hinweis auf die eucharistische Gemeinschaft als die erfüllte Gegenwart Christi, die Mitte der Schrift, fort. Insofern ist die Eucharistie, aus orthodoxer Sicht, als Christus mitten unter uns, die Erfüllung der biblischen Hermeneutik. Zugleich aber ist die eucharistische Gemeinschaft Erfüllung der Kommunikation zwischen Mensch und Gott. Ein inniger Bezug zeigt sich in diesem Zusammenhang zwischen der Kommunikation einerseits und der Gemeinschaft andererseits: Je intensiver die Kommunikation wird, ist sie eine werdende Gemeinschaft, eben communicatio-communio.

Die Heilsworte in Jes 40ff und der Stimmungsumschwung in den Individualpsalmen

Den zweiten Vortrag hielt Uwe Rechberger, der gegenwärtig an einer atl. Dissertation über den sog. Stimmungsumschwung in den Individualpsalmen arbeitet. Er thematisierte „Die Relevanz der Heilsworte in Jes 40ff für den sog. Stimmungsumschwung in den Individualpsalmen“: Spätestens seit dem epochemachenden Aufsatz „Das priesterliche Heilsorakel“ von Joachim Begrich (1934) axiomatisiert das Gros alttestamentlicher Forscher ein „priesterliches Heilsorakel“ als Ursache für den sog. Stimmungsumschwung in den Individualpsalmen. Die Existenz jener Gattung ist psalmimmanent höchstens zu vermuten, doch für Begrich u.a. bis dato eindeutig in den Heilsworten von Jes 40ff bewiesen. In kontext- und sprechaktanalytischen, form- und religionsgeschichtlichen Überlegungen zu den Heilsworten von Jes 40ff bot der Vortrag eine Überprüfung dieses Axioms. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass weder für die Heilsworte in Jes 40ff noch für das Alte Testament im Gesamten von einer Gattung „priesterliches Heilsorakel“ ausgegangen werden darf. Dieses Gattungsaxiom ist ein Schreibtischprodukt der religions- und formgeschichtlichen Schule des späten 19. u. frühen 20. Jh. Auf Grund der Widerlegung der Gattungsexistenz „priesterliches Heilsorakel“ und der Relevanz der Heilsworte in Jes 40ff für den sog. Stimmungsumschwung in den Psalmen, ist nach einer psalmimmanenten Lösung zu suchen. Für den Fortgang der Dissertation heißt dies, vor allem linguistisch, sprachwissenschaftlich und poetologisch vorzugehen, was der Arbeit nicht allein exegetisch, sondern auch methodisch ihre Bedeutung gibt.

Das Doktoranden- und Habilitandenkolloquium
18 Teilnehmer befassten sich mit vier qualitativ hochwertigen Vorträgen und...

Schlatters Schriftlehre

Am Samstag begann der Vormittag nach Frühstück und Andacht mit einem Vortrag von Clemens Hägele über sein Promotionsprojekt zu Schlatters Schriftlehre. In Bezug auf Schlatters Schriftlehre gibt und gab es unterschiedlichste Deutungen und Wertungen. Eine umfassende Untersuchung über dieses Thema ist bislang jedoch nicht vorgenommen worden. Ebenso wurden wichtige Quellen aus Schlatters Nachlass zu diesem Thema bisher nicht herangezogen. Fasst man den Begriff Schriftlehre sehr weit, dann ergeben sich für eine Untersuchung grob zwei Fragerichtungen: 1. Welche prinzipientheologische Rolle spielt die Schrift in Schlatters Dogmatik? 2. Wo ist der dogmatische Ort der expliziten Schriftlehre und was sind ihre Aussagen an diesem Ort? Zur Frage nach der prinzipientheologischen Rolle der Schrift gibt es (grob gesprochen) zwei Deutungen: 1. Sie spielt in der vorangestellten(!) Anthropologie der Dogmatik so gut wie keine Rolle. In der Christologie, Soteriologie und Eschatologie dagegen wird sie in biblizistischer Weise zum Einsatz gebracht. Schlatters Dogmatik wäre so eine merkwürdige Mischung aus natürlicher Theologie und Biblizismus. 2. Die Schrift ist in allen Teilen der Dogmatik Autorität und Korrektiv. Die Arbeit versucht, diesen und anderen Problemen nachzugehen, und somit einen wichtigen Beitrag zum Gesamtverständnis Schlatters zu liefern.

Ver-kehrte Gotteserkenntnis

Abschließend referierte Johannes Woyke zum Thema „Ver-kehrte Gotteserkenntnis. Zum Wesen der Götter, der Beurteilung heidnischer Religiosität und Spuren paulinischer Missionspredigt in Röm 1,18–32“: „Wo man das Bedürfnis empfunden hat, von der ersten Verkündigung des Apostels [Paulus] vor Heiden sich ein anschauliches Bild zu machen, ist man ganz natürlich auf Heranziehung von Röm 1,18ff gekommen.“ An dieser eher intuitiven Beweisführung hat sich seit E. Webers Analyse der „Beziehungen von Röm 1–3 zur Missionspraxis des Paulus“ vor knapp einhundert Jahren wenig geändert. Schlägt sich hier tatsächlich Missionspredigt nieder? Polemisiert Röm 1,18–32 überhaupt gegen Heiden? Wird irgendetwas ausgesagt über das Wesen heidnischer Götter? Der Text selber ist ein religionsgeschichtliches Konglomerat: die apokalyptische Gerichtsansage (äHen 91,7ff), der stoische Topos der Erkennbarkeit des Göttlichen aus der Natur und der entsprechenden Verpflichtung zur Götterverehrung (Xenophon, Mem IV/3,13f), hellenistisch-jüdische Kritik an der Verehrung des Geschöpfes anstelle des Schöpfers (Philo, Mos II,171). Innerhalb der Fragestellung nach „Göttern, Götzen, Götterbildern“ in der Theologie des Paulus interessiert vor allem die Beschreibung der Vergehen gegen Gott. Insbesondere die Formulierung der „Vertauschung“ (unvergänglicher Gott – vergänglicher Mensch, Wahrheit – Lüge, Schöpfer – Geschöpf) erinnert traditionsgeschichtlich an die Episode des sog. Goldenen Kalbes (Ps 106,20; Philo, Mos II,167–171). Auch die Makrostruktur des adäquaten Verfalls (Vergehen gegen Gott – „deshalb gab Gott sie dahin“ – entsprechender moralischer Verfall) weist in den Kontext der Geschichte Israels (Ps 81,9–14). Sollte Paulus hier also mit den Erwartungen seiner jüdischen Zuhörer spielen, die Heidenpolemik hinter seinen Ausführungen vermuten, wo die Formulierungen jedoch implizit schon Röm 2,1 vorwegnehmen? Sollte Paulus überdies mit der Formulierung „sie beten das Geschaffene anstelle des Schöpfers an“ die Existenz von geschaffenen Geistwesen hinter den Gestirnen voraussetzen (so Philo)? Diese und mehr Fragen gilt es, methodisch sauber anzugehen.

Das Doktoranden- und Habilitandenkolloquium
...ließen neben wissenschaftlich theologischer Arbeit auch Raum für Gemeinschaft.

Wissenschaft und Gemeinschaft

Neben der Vielfalt wissenschaftlich theologischer Arbeit hatte auch die Gemeinschaft und nicht zuletzt die geistliche ihren Raum. Zum Schluss danken wir Herrn Prof. Dr. Rainer Riesner für seine theologische Betreuung und Leitung des Kolloquiums sowie seiner Familie für die herzliche Gastfreundschaft am Freitagabend. Ein ebenso herzliches Dankeschön gilt Frau Waltraud Rath, Hausmutter im Albrecht-Bengel-Haus, für Ihre exzellente Verköstigung. Der Termin für das kommende Jahr ist der 08/09.03.2002. Weitere Interessierte sind herzlich willkommen!

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 7/1 (2001)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie

19.12.2007
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