Evangelistische Zielgruppengottesdienste

Tagung der Facharbeitsgruppe Praktische Theologie

Dr. Hans-Georg Wünch

Vom 5.3. bis 6.3.2001 traf sich die AfeT-Facharbeitsgruppe Praktische Theologie (FAGPT) im Neues Leben-Zentrum in Wölmersen bei Altenkirchen. Thematisch ging es in diesem Jahr um evangelistische Zielgruppengottesdienste sowie Zielgruppengemeinden, speziell Jugendgemeinden. Prof. Dr. Helge Stadelmann hielt einen Vortrag über „Luthers Reformvorschläge für die Gottesdienstgestaltung (1526) und ihre Relevanz für evangelistische Zielgruppengottesdienste und Hauskirchen heute“, Dr. Hans-Georg Wünch sprach über „Gestalt und Problematik von Jugendgemeinden heute“.

Zielgruppenorientierung als Marketingprinzip

Prof. Dr. Stadelmann machte zunächst deutlich, dass Zielgruppenorientierung ein Begriff aus dem Bereich der modernen Marketingprinzipien sei (nicht zu verwechseln mit Managementprinzipien), und zwar gehe es konkret um die sogenannten abnehmerorientierten (bzw. produktorientierten) Marketingstrategien. Daneben gibt es noch das verkaufsorientierte Marketing (wie führe ich Verkaufsgespräche, wie gewinne ich Kunden?) und das produktionsorientierte Marketing (wie kann ich durch niedrigere Preise den Verkauf fördern?). In der Gemeindewachstumsbewegung war, so Stadelmann, vorwiegend das abnehmerorientierte (produktorientierte) Marketing ausschlaggebend, während die Kritik vorwiegend gegen das verkaufsorientierte Marketing polemisierte.

Stadelmann wies darauf hin, dass eine solche Zielgruppenorientierung schon bei Luthers Aussagen zum Gottesdienst zu finden sind, Aussagen, die man als „Willow-Creek-Prinzipien des 16. Jahrhunderts“ bezeichnen könnte.

Luthers Reformvorschläge

Besonders interessant in dieser Hinsicht ist Luthers Einführung zur Deutschen Messe (1526). Hier betont er, dass die äußerliche Ordnung an sich keine geistliche Bedeutung hat, sondern nach dem Zuhörer (dem „Nächsten“) gewählt werden soll. Die liturgischen Ordnungen, die Luther in der Deutschen Messe aufstellt, sind nicht um deretwillen notwendig, die schon Christen sind, sondern um deretwillen, die noch nicht oder noch nicht lange Christen sind, d.h. es geht Luther um einen evangelistischen Gottesdienst für Nichtchristen und Neubekehrte! Auf diese Zielgruppe muss sich der ganze Gottesdienst ausrichten: „umb solcher willen mus man lesen/ singen/ predigen/ schreyben und dichten/ und wo es hulfflich und fodderlich dazu were/ wolt ich lassen mit allen glocken dazu leutten/ und mit allen orgeln pfeyffen/ und alles klingen lassen was klingen kunde/“.

Drei Arten von Gottesdienst

Luther fordert drei Arten von Gottesdienst:

  1. eine lateinische Messe (Formula Misse). Diese ist besonders wegen der Jugend wichtig. Luther möchte damit auch die Internationalität der christlichen Jugend fördern. Er würde, wenn es genügend Kundige gäbe, auch Gottesdienste in Griechisch und Hebräisch durchführen.

  2. die deutsche Messe. Diese ist besonders wichtig wegen der einfältigen Laien. Sowohl die lateinische als auch die deutsche Messe sollen öffentlich vor allem Volk gehalten werden als evangelistische Gottesdienste, als „offentliche reytzung zum glauben und zum Christêthum.“. Zielgruppe dieses Gottesdienstes ist das ganze Volk, „darunter viel sind/ die noch nicht gleuben odder Christen sind/ sondern/ das mehrer teyl da steht und gaffet/ das sie auch etwas newes sehen/ gerade/ als wenn wyr mitten unter den türcken odder heyden auff eym freyen platz odder felde Gottis dienst hielten/“.

  3. der Gottesdienst für die Gläubigen: „Aber die dritte weyse/ die rechte art der Euangelischen ordnunge haben sollte/ muste nicht so offentlich auff dem platz geschehen unter allerley volck/ sondern die ienigen, so mit ernst Christen seyn/ und das Euangelion mit hand und munde bekenê/ musten mit namen sich eyn zeychen/ und etwo (irgendwo) yn eym hause/ alleyne sich versamlen/ zum gebet/ zu lesen/ zu teuffen/ das sacrament zu empfahen und andere Christliche werck zu uben. Inn dieser ordnunge kund man die/ so sich nicht Christlich hielten/ kennen/ straffen/ bessern/ ausstossen/ odder ynn den bann thun/ nach der regel Christi Matth. Xviij.“

Die Gemeinde nach der dritten Weise ist für Luther zur Zeit noch nicht erreichbar, da ihm hier noch die erforderlichen Leute fehlen: „Kurtzlich/ wenn man die leute und personen hette/ die mit ernst Christen zu seyn begerten/ die ordnunge und weysen weren balde gemacht. Aber ich kann und mag noch nicht eyne solche gemeeyne odder versamlunge orden odder anrichten/ Denn ich habe noch nicht leute und personen dazu/ so sehe ich auch nicht viel/ die dazu dringen. Kompts aber/ das ichs thun mus und dazu gedrungen werde/ das ich's aus gutem gewissen nicht lassen kann/ so will ich das meyne gerne dazu thun/ und das beste so ich vermag/ helffen.“

Entstehung und Entwicklung von Jugendgemeinde

In dem zweiten Vortrag setzte sich Dr. Hans-Georg Wünch kritisch mit der Entstehung und Entwicklung von Jugendgemeinde auseinander. Im Unterschied zum Zielgruppengottesdienst geht es hier um die Gründung von Gemeinden in eine bestimmte kulturelle Einheit hinein. Wünch stellte dies beispielhaft anhand der Entwicklung der International Christian Fellowship-Gemeinden (ICF) dar.

ICF wurde 1990 von Heinz Strupler gegründet. Strupler führte in der St. Anna-Kirche in Zürich englisch-deutsche Abendgottesdienst ein. Viele Jugendliche und Junge Erwachsene kamen zu diesen Sonntagsabend-Gottesdiensten. Rasch stiegen die Besucherzahlen auf ca. 300 an. Dabei handelte es sich zunächst nicht um eine Gemeinde, sondern um einen zusätzlichen, überkonfessionellen Gottesdienst, der von vorwiegend evangelikalen Jugendlichen aus Landes- und Freikirchen besucht wurde.

1996 verlies Heinz Strupler ICF und übergab die Leitung an Leo Bigger. Im Mai 1996 schloss Bigger ICF mit der Limmatgemeinde (unter Leitung von Matthias Bölsterli) zusammen zur ICF-Church. Bigger übernahm die Gesamtleitung der neuentstandenen Gemeinde. Bis März 1997 fanden die Gottesdienste am Limmatplatz statt, seither in der Alten Börse. Heute besuchen ca. 2.500 junge Leute die vier sonntäglichen Gottesdienste. Während der Woche sind sie in etwa 80 Hauskreisen (sogenannten „workshops“) organisiert.

Neben den sonntäglichen Gottesdiensten, die für die „generation x“ (ab 20) gedacht sind, gibt es den „youth planet“ (für die 16–19Jährigen) und das „ground zero“ (für die 13–15Jährigen) sowie den „chinderexpres“ (für die bis 12Jährigen).

ICF-Gemeinden gibt es heute in Zürich, Basel, Bern, Biel, Baden, Chur, Nürnberg sowie Berlin. Weitere Projekte sind geplant bzw. in der Vorbereitungsphase. Dazu dient „ICF unlimited“, geleitet von Bruno Bigger, dem Bruder von Leo Bigger. Das Ganze nennt sich „ICF-Gospel-movement“.

Wünch machte deutlich, dass die konsequente Ausrichtung auf Jugendliche das entscheidende und wichtigste Moment von ICF ist. Gleichzeitig gebe es eine ebenso konsequente Ausrichtung auf ein beständiges Wachstum. Dazu heißt es in der Zeitschrift „heartbeat“, mit der ICF-Zürich seine Arbeit und sich selbst vorstellt: „Verschiedene Propheten aus der ganzen Welt haben icf großes Wachstum angekündigt; u.a. mit dem Wort von Bobby Conner, icf würde sich verdoppeln und verdoppeln und wieder verdoppeln. Dieses Wort führte zur Zielsetzung, sich jedes Jahr zu verdoppeln, und zwar sowohl bei den Gottesdienstbesuchern, wie bei den Workshops und bei den Finanzen“ (S. 5).

Zu der Wachstumsorientierung gehört auch, dass theologisch-lehrmäßige Festlegungen möglichst vermieden werden. Schließlich könnte die einen Teil des Publikums abschrecken. Stattdessen wird in den Gottesdiensten ein „evangelikal-charismatischer Minimalkonsens“ vertreten, während in den „workshops“ die einzelnen Leiter über die Lehre bestimmen.

Und schließlich gehört zu der strikten Orientierung an Wachstum und Erfolg auch, dass man keinen Grund sieht, mit anderen Gemeinden zusammen zu arbeiten (etwa im Sinne der Evangelischen Allianz). Zwei Gründe sind dafür maßgeblich: 1. Man hat keine Zeit dafür (in einem Interview mit der schweizerischen Zeitschrift EDU sagte Bigger, man sei eben derzeit „überaus beschäftigt mit der Ernte selbst“. 2. Man scheut die theologischen Diskussionen, die als fruchtlos angesehen werden.

ICF-Gemeinden kennen keine formelle Mitgliedschaft. Wer sich zur Gemeinde hält und die fünf Standbeine (Gottesdienst, Freunde zu Jesus führen, workshops, Zehnter und Dienst) akzeptiert und auslebt, gehört zur Gemeinde. In „heartbeat“ heißt es: „Im icf gibt es keine Mitglieder, sondern Menschen, die sich im Herzen zugehörig fühlen. Die Zugehörigkeit zu icf drückt sich bei den icflern durch aktive Teilnahme aus.“ (S. 7) Dies bedeutet natürlich in der Konsequenz, dass Gemeindezucht ebenso unmöglich ist, wie es unmöglich ist zu verhindern, dass Jugendliche aus anderen Gemeinden abgezogen werden und sich bei ICF anschließen. Angesichts der Ausrichtung der gesamten Arbeit auf das Wachstum wäre ein solches Vorgehen ja auch außerordentlich schädlich (jedenfalls auf den ersten Blick).

Die Struktur der ICF-Churches ist stark hierarchisch. An der Spitze steht der Gesamtleiter. Ihm untergeordnet ist das sogenannte „Core-Team“, das alle Entscheidungen der Leitung zu treffen hat. Der Gesamtleiter ist allerdings nicht ein gleichberechtigtes Mitglied im Core-Team, sondern steht über diesem. Beratend für das Core-Team funktionieren ein „geistlicher Rat“ (für alle geistlichen Fragen zuständig) und ein „Management-Team“ (für Finanzen, Räume usw. zuständig). Unter diesen befindet sich das „Leitungsteam“, das die ehrenamtlichen Mitarbeiter anzuleiten und zu koordinieren hat und die verschiedenen Dienstzweige leitet. Unter dem Leitungsteam wiederum sind die einzelnen Aufgabenbereiche der Gemeinde angeordnet, vom Begrüßungsdienst über Musik, Theater usw. bis zu den Workshops.

Keine Zielgruppengemeinden im NT

In einer anschließenden kurzen ekklesiologischen Grundlegung betonte Wünch, dass es im NT keine Gemeinden für bestimmte Zielgruppen gibt. Natürlich sei es sehr schwierig, aus dem Nichtvorhandensein einer Sache Schlüsse zu ziehen. Dennoch könne man das in diesem Fall durchaus tun. In der ntlichen Gemeinde gab es eine Reihe von Spannungen, die sowohl die Evangelisation als auch die Einheit in der Gemeinde gefährdeten. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicher die Kluft zwischen Juden- und Heidenchristen. Wäre es nicht, so fragte Wünch, effektiver gewesen – sowohl für den Gemeindebau selbst als auch für die evangelistischen Bemühungen – wenn man Gemeinden in die Juden- und Gemeinden in die Heidenkultur hinein gegründet hätte? Stattdessen wird ungeheuer viel Energie dafür investiert, die Einheit zwischen Juden- und Heidenchristen herzustellen und auszuleben. Paulus betont dies z.B. in Eph. 2:11–16. Gerade die Einheit von Menschen, die eigentlich nach menschlichen Maßstäben nicht miteinander auskommen können, ist der grundlegende Unterschied zwischen Gemeinde und „weltlichen“ Vereinen und Gruppierungen.

Kritische Anfragen

Wünch schloss daher mit einigen kritischen Anfragen zu „Jugendgemeinden“ insgesamt sowie zu ICF im Besonderen: 1. Entspricht eine Gemeinde für eine bestimmte Zielgruppe wirklich dem neutestamentlichen Gemeindeverständnis? 2. Was geschieht, wenn in einigen Jahren die heute Jugendlichen zu den „Alten“ geworden sind? 3. Wie lange kann eine Bewegung eine Einheitlichkeit bewahren, in der es kaum theologisch-lehrmäßige Festlegungen gibt? 4. Kann eine Gemeinde dieser Größenordnung auf Dauer ohne feste Mitgliedschaft auskommen? 5. Führt die grundlegende Ausrichtung auf Effektivität nicht letztlich zu geistlichem Leerlauf? Ist wirklich (nur) wahr, was funktioniert?

Fazit

Nach ausführlichen Diskussionen wurden aus beiden Vorträgen die folgenden Ergebnisse gezogen:

  1. Gemeinde muss sich sammeln und als Gemeinde profilieren

  2. Ein Grundproblem moderner Gemeindesituation ist die immer stärker werdende Zersplitterung unserer Gesellschaft. Wo und in welcher Weise kann hier ein gesunder Weg zwischen Abkapselung einer Gemeindeform und einer Zielgruppengemeinde gefunden werden?

  3. Entscheidend ist die evangelistische Aufgabe, die wirklich alle in den Blick nimmt. Hier sollte man zielgruppenorientiert Wege finden, alle zu erreichen. Diese zielgruppenorientierte Evangelisation sollte aber noch stärker auf die Sammlung derer, „die mit Ernst Christen sein wollen“ hinzielen, die wiederum nicht selbstgenügsam sein darf, sondern die nicht Erreichten im Blick behalten.

  4. In der Sammlung derer, die durch zielgruppenorientierte Arbeit erreicht werden, sollte die Einheit des Leibes deutlich werden.

  5. Wir brauchen eine stärkere Betonung der dogmatischen Ekklesiologie in der praktischen Theologie, so dass auf der einen Seite eine Weite entsteht, die handlungsfähig macht, auf der anderen Seite aber die Richtlinien deutlich werden, anhand deren sich unsere Praxis orientieren muss.

  6. Im landeskirchlichen Rahmen ist die Frage, wie viel Freiheit in der Gestaltung des Gottesdienstes bleibt, um modernere Gottesdienstformen durchzuführen, oder ob diese ihren Platz nur in Sondergottesdiensten hat. Die neuen liturgischen Festlegungen lassen hier relativ viel Spielraum.

  7. Die Hauptschwierigkeit ist, auf der einen Seite das Recht der zielgruppenorientierten missionarischen Arbeit zu betonen und dann die dort zum Glauben gekommenen Menschen in eine der heute vorhandenen Gemeinden zu integrieren.

Das nächste Treffen der FAGPT ist am 11.–12.3.02, ebenfalls wieder im Neues Leben-Zentrum in Wölmersen. Geplant ist, sich dabei mit der Zukunft des Religionsunterrichtes auseinander zu setzen.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 7/1 (2001)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie

29.05.2001
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