Das Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen

Studienhaus im Schnittpunkt

PD Dr. Eberhard HahnEberhard Hahn

Von seiner Gründung an fand sich das Albrecht-Bengel-Haus (ABH) an einem Ort lokalisiert, der sich als Schnittpunkt sehr unterschiedlicher Linien und Einflüsse zu erkennen gab. Diese spezifische Position lässt manche Eigenarten verstehen, die bis heute für diese Einrichtung charakteristisch sind.

1. Im Schnittpunkt von Universität und Landeskirche

Das ABH wurde 1969 vor allem von Synodalen der württembergischen Landeskirche gegründet, die in großer Sorge um die Prägung der künftigen Pfarrer waren. Bejaht wurde die Ausbildung von Studenten an der Theologischen Fakultät einer staatlichen Universität. Bejaht wurde der pfarramtliche Dienst in der Landeskirche, der Auftrag des Religionslehrers an den staatlichen Schulen. Kritisiert wurde jedoch die Art und Weise, wie sich die universitäre Vorbereitung auf diese Dienste im Gefolge der Studentenunruhen vollzog. Einen Signaleffekt hatten öffentlichkeitswirksame Veränderungen im Evangelischen Stift, der traditionellen Heimat der Tübinger Theologiestudenten: Abschaffung des gemeinsamen Tischgebets, Einführung gemischter Stockwerke für männliche und weibliche Studenten. Für die einen war dies die konsequente Umsetzung der neu entdeckten Emanzipationsbestrebungen. Für viele Gemeindeglieder aber ergab sich die besorgte Frage: Kann diese Umgebung für die Prägung angehender Pfarrer förderlich sein? Dahinter aber tatn sich theologische Fundamentalprobleme auf: Die offenkundige Entmachtung der Autorität der Heiligen Schrift durch die ratio des jeweiligen Theologen im Namen einer historisch-kritischen Theologie, wie auch die Erzeugung eines theologisch schlechten Gewissens im Blick auf die missionarisch-einladende Verkündigung des Evangeliums durch eine universalistische Deutung der Versöhnung.

das Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen

Das ABH wollte und will beides: dankbar an der Arbeit von solchen Theologen anknüpfen, die der oikodome der Gemeinde und ihrer zukünftigen Mitarbeiter dient. Kritik an den Stellen äussern, die Theologie in unfruchtbare Theorie zu verwandeln drohen, und sich demgegenüber um eine weiterführende Alternative bemühen.

2. Im Schnittpunkt von gemeinschaftlichem Erleben und intellektueller Bemühung

Bei der Frage nach den Stärken des ABH wird gewöhnlich zuerst die geistliche Gemeinschaft genannt. Tatsächlich ist nicht nur Christsein im Allgemeinen, sondern erst recht Theologiestudium im Besonderen ohne gelebte Gemeinschaft nicht zu denken. Da der Einzelne nun einmal an der Universität sehr vielfältigen Winden der Lehre ausgesetzt ist, bedarf der junge Christ der Gemeinschaft des Glaubens hier noch dringender, als dies ohnehin der Fall ist. Tägliche Andachten, wöchentliche Treffs in kleiner oder großer Gruppe, vierzehntägliche Abendmahlsgottesdienste, Angebot zur Seelsorge – dies strukturiert das gemeinsame Leben. Ohne Frage muss sich jede Bemühung um Prägung und Gestaltung des geistlichen Lebens beständig mit dem Vorwurf der Routine oder der Forderung nach Abwechslung auseinander setzen. Doch soll gerade so eine bewusste und bejahte Formung entstehen.

gemeinschaftliches Erleben und intellektuelles Bemühen

Nicht ganz einfach zu handhaben ist die bequeme Aufteilung der „Reiche“: intellektuelle Bemühung an der Universität – Entspannung, Gemeinschaft und Geselligkeit am ABH. Demgegenüber trennt die Konzeption des ABH gerade an dieser Stelle nicht: Gemeinschaft kann nicht in Wohlfühl-Kultur aufgelöst werden. Sie hat ihr klar zu beschreibendes Zentrum in Jesus Christus, dem Herrn der Gemeinde. Die Aufgabe der Theologie aber besteht darin, das Zeugnis von diesem Herrn sachgemäß zu verantworten. Somit reicht es nicht aus, sich theologische Inhalte gedankenlos anzulernen. Vielmehr will das Dargebotene bedacht, kritisch geprüft und dann angeeignet bzw. begründet abgelehnt werden. Diese Bemühung ist wesentlich aufwendiger und mühevoller als die fraglose Übernahme von Positionen, die von einer Mehrheit geteilt werden. Aber sie ermöglicht die Bildung einer fundierten theologischen Existenz. Dazu will das ABH beitragen.

3. Im Schnittpunkt von Landes- und Freikirchen

Auch wenn das ABH eine württembergische Gründung ist, so waren von Anfang an Studenten aus anderen Landeskirchen und später auch von Freikirchen mit dabei. Das heißt keineswegs, dass das ABH eine interdenominationelle Einrichtung ist (ganz abgesehen von der Frage, ob es das realiter überhaupt geben kann!). Zur Orientierung dient das Etikett „lutherischer Pietismus“ (selbst angesichts der gelegentlich begegnenden Behauptung, dass darin ein unüberbrückbarer Widerspruch liege!). Diese klar zu beschreibende Grundlage soll und kann jedoch nicht im Sinne der Verteidigung eines konfessionalistischen Erbes verstanden werden. Daher werden Luther oder Spener nicht aus ehrfürchtiger Pietät studiert, sondern in der Überzeugung, dass Gott durch solche Zeugen seiner gesamten Kirche Erkenntnisse und Akzentsetzungen anvertraut hat, die auch wir nur zu unserem Schaden außer Acht lassen. Dies bringt es mit sich, dass z.B. beim Thema „Taufe“ gelegentlich heftige Kontroversen geführt werden. Der anhaltende Austausch hat jedoch auch zur Folge, dass Verständnis für andere Positionen entsteht und ein Lernprozess zur Veränderung von Grundüberzeugungen einsetzen kann.

4. Im Schnittpunkt von Theorie und Praxis

Ein folgenschweres, wenn auch verbreitetes Missverständnis des theologischen Studiums kulminiert in der Behauptung, hier werde „Theorie“ erworben, die für die spätere „Praxis“ nur von sehr eingeschränktem Wert sei. Daher sei es erforderlich, bereits während des Studiums praktische Kompetenz in Gemeindeaufbau, Predigt oder Leitungsverantwortung zu erwerben. Zweifellos ist zu beklagen, dass Inhalt und Form theologischer Vermittlung an der Universität den „Theorievorwurf“ vielfältig belegen. Vergessen ist jedoch, dass Theologie einst als z.B. „heilige Gottesgelehrsamkeit“, als „eminent praktische“, d.h. existenzielle Wissenschaft bestimmt wurde, dass etwa Albertus Magnus befand: Theologie wird von Gott gelehrt, belehrt über Gott und führt zu Gott. So verstanden haben die scheinbar spitzfindigsten Unterscheidungen konkrete Folgen für das Verständnis meines Christenlebens. Andererseits ist es unabdingbar, die theologischen lmplikationen scheinbar „technischer“ Methoden z.B. des Gemeindeaufbaus beurteilen zu können.

Eine leibhaftige Erinnerung an die Zusammengehörigkeit von Glaube und Leben, von Bekenntnis und Handeln stellen unsere „Nicht-Theologen“ dar, Studierende der unterschiedlichsten Fachrichtungen. Sie fragen nach der Verantwortung des Glaubens im Rahmen einer medizinischen Ethik oder angesichts unterschiedlicher pädagogischer Konzeptionen und zwingen dadurch zum Bedenken von Fragen, die im engeren theologischen Umkreis eher ungewohnt scheinen.

5. Im Schnittpunkt von Gemeinde Jesu hier und weltweit

Die Kirche Jesu Christi reicht weiter als unser Kirchturmhorizont, den wir selbst überschauen. Daher war die Weltmission von jeher ein zentrales Anliegen des Pietismus. Als Werk aus dem Bereich des Pietismus wäre auch das Albrecht-Bengel-Haus ohne seinen Missionszweig nicht denkbar. Er hat einen gewichtigen Anteil an dem, was dem Haus sein heutiges Gepräge gegeben hat. Über die Jahre hinweg blieb der Missionszweig zwar ein zahlenmäßig kleiner „Ast“ neben dem kräftigen „pastoralen Stamm“ mit all den Studenten, die sich auf den Pfarrdienst vorbereiteten. Gerade die Vielfalt der Herkunftsländer der „Missionszweig-Bengel“ bereichert jedoch als Salz in der Suppe das gemeinsame Arbeiten und Leben ungemein: Dies reicht von persönlichen Kontakten über mahnende Worte zu unserer hiesigen kirchlichen und geistlichen Situation bis hin zum Anstoß für die Übernahme einer konkreten Aufgabe in der Mission.

ABH – Studienhaus im Schnittpunkt: angesichts dieser eigenartigen Ortsbestimmung kommt es stets neu darauf an, diesen Punkt nicht als schwer entwirrbaren Knoten vielfältiger Fäden zu verstehen, sondern ihn eher als „Kreuzweg“ zu deuten, als Punkt also, der vom Gekreuzigten her gedeutet werden will. Nur so kann das ABH seiner Platzanweisung gerecht werden und auch in Zukunft die Aufgabe wahrnehmen, die ihm in der Vergangenheit zugekommen ist: geistlich-theologische Orientierung anzubieten am Schnittpunkt zahlreicher Linien.

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 5/2 (1999)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie


23.12.1999
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