Rolf HilleRolf Hille: Editorial ETM 6/2 (2000)

Liebe Freunde,

herzlich grüße ich Sie wieder aus dem heimischen und herbstlichen Tübingen, nachdem ich Mitte September aus meinem Forschungssemester in Princeton, New Jersey, zurückgekehrt bin. Nach zehnjähriger Tätigkeit als Studienleiter bzw. Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses hat mir unser Trägerverein diese großartige Möglichkeit der Forschungs- und Studienarbeit in den USA eingeräumt. Meine Frau und ich sind dafür sehr dankbar. Es liegt eine reich erfüllte Zeit mit vielen guten Erfahrungen und Begegnungen hinter uns. Die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen theologischer Arbeit und kirchlichen Lebens in den USA unterscheiden sich doch stark von den unseren. Ich möchte sie in diesem Editorial in drei skizzenhaften, persönlichen Notizen daran teilhaben lassen.

Doch zunächst kurz zu meinem Forschungsprojekt. Vor Antritt des Forschungssemesters konnte ich an der Tübinger philosophischen Fakultät die Magisterprüfung abschließen. Seit meiner intensiven Beschäftigung mit Karl Heim ist mir das, was klassischer Weise als „Apologetik“ bezeichnet wird, zur wichtigen theologischen Aufgabe geworden. Und ich spüre bei uns im Bengelhaus wie sowohl die Grundlagenprobleme als auch die Auseinandersetzung mit philosophischen Konzepten, Ideologien und nichtchristlichen Religionen unabweisbar brisante Themen darstellen. Hier möchte ich im geistigen Ringen unseren Studentinnen und Studenten künftig mit noch mehr Fachkompetenz helfen. So habe ich in Princeton damit begonnen, eine philosophische Arbeit über den ultramodernen bzw. auch postmodernen amerikanischen Pragmatiker Richard Rorty zu schreiben. Rorty gilt als führender Kopf der linksliberalen Szene in den USA. Sein großes Ziel ist die Dekonstruktion der traditionellen Metaphysik einschließlich des abendländischen Wahrheitsbegriffes sowohl christlicher wie aufklärerischer Provenienz. Auf der damit entstehenden „tabula rasa“ agiert Rorty dann unbekümmert und weithin unbegründet pragmatisch und fragt gut amerikanisch nach der „cash value“ aller Wahrheitsansprüche. Was mir an ihm besonders relevant erscheint, ist sein für unsere geistige Situation typischer Denkstil mit allen Implikationen für die politische und gesellschaftsbezogene Philosophie, die ich gerne detaillierter aufarbeiten würde.

Über die Studienarbeit hinaus habe ich in den USA einige für mich theologisch wichtige Einsichten gewonnen. Erstens habe ich existentiell begriffen, was Kontextualisierung bedeutet. Bislang hatte ich nur im Rahmen kürzerer Tagungen der Theologischen Kommission der World Evangelical Fellowship (WEF) in den USA gelebt und war beeindruckt davon, wie praktisch und verheißungsorientiert die Amerikaner den Glauben verkündigen und erleben. Davon kann man gerade als vorsichtiger Europäer viel lernen. Ungeachtet dieses Wertes in sich ist mir aber auch klargeworden, wie sehr diese geistliche Haltung in der natürlich-geschichtlichen Mentalität der Amerikaner verwurzelt ist und zum Teil mit gleichen Worten und Wendungen in Werbung und Politik, in Kultur und Unterhaltung etc. auftaucht. Der nationale „mind set“ bestimmt doch viel tiefer und umfassender unseren hermeneutischen Zugang zur biblischen Botschaft auch dort, wo wir nichts weiter als „bibeltreu“ sein wollen.

Zweitens: Das Stiftungswesen in den USA ist höchst beeindruckend. So kann man auf Grund des enormen Immobilien- und Geldvermögens das Princeton Theological Seminary gut und gerne als steinreich bezeichnen. Über fünfzig Theologieprofessoren sind für die ca. 600 Studierenden angestellt, von denen sehr viele großzügige Stipendien erhalten. Auf Grund ihrer hohen Zinserträge sind die „Princtonians“ kaum noch auf Spenden aus den presbyterianischen Gemeinden angewiesen, sondern finanziell mindestens so unabhängig wie jede deutsche Fakultät. Dennoch werden gravierende Unterschiede deutlich. Als „mainline church“ erleiden die Presbyterianer zur Zeit erhebliche Mitgliederrückgänge vor Ort. Das macht sie skeptischer gegenüber dem Seminar, das lange Jahrzehnte fundiert evangelikal war und nun zum Teil extrem liberal geworden ist. Ich selbst war wegen der hervorragenden Bibliotheken und der philosophischen Uni-Fakultät nach Princeton gegangen. Nun machen die Gemeinden offensichtlich Druck und man besinnt sich im Seminar ei wichtigen personalpolitischen Entscheidungen wieder stärker seiner geistlichen Wurzeln und der kirchlichen Verantwortung. Dieses gesunde Wechselspiel zwischen Kirche und theologischer Ausbildung gibt es leider in diesem Maße bei uns nicht – zum Schaden der Kirchen und Fakultäten.

Drittens: Trotz der peinlich genau beachteten Trennung zwischen Kirche und Staat sind die freikirchlichen USA im gesellschaftlichen Leben viel volkskirchlicher als es sich die Volkskirchen in unserem säkularen Umfeld je träumen lassen könnten. Vor allem spielen in den Medien die Evangelikalen nicht nur in den angemieteten Kanälen, sondern in der ganzen Breite der einflussreichen Radio- und Fernsehstationen eine bedeutende Rolle. Hier funktioniert ein echtes „fair play“. In Interviews, in wissenschaftlichen Dokumentationen und gesellschaftlich-theologischen Analysen werden prominente Evangelikale ernsthaft gehört und berücksichtigt.

Den Abschluss meines Forschungssemesters bildete eine internationale Tagung der WEF in London zu Fragen der theologischen Ausbildung, bei der ich einen Vortrag zu halten hatte. Mir war eindrücklich, wie die evangelikalen Seminare in Afrika, Asien und Lateinamerika nach Wegen suchen, sowohl die klassische europäische Theologie kritisch aufzunehmen wie auch die relevante Auseinandersetzung mit ihrer je eigenen Tradition und Situation. zu bestehen. Gleichzeitig kommt global mit den neuen Informationstechnologien auch in der theologischen Ausbildung ein neues Zeitalter akademischen Unterrichtens und Lernens auf uns zu.

Vom 9. bis zum 12. September 2001 wollen wir uns im Rahmen unserer 12. AfeT-Studienkonferenz mit den theologischen Grundlagen der Evangelisation beschäftigen. Ein Thema, das angesichts jüngster Diskussionen sehr aktuell geworden ist. Hinweisen möchte ich schon jetzt auch auf eine erste gemeinsame Konferenz zwischen der Fellowship of European Evangelical Theologians (FEET) und Theologischer Kommission der WEF, die vom 16. bis 20. August 2002 in Wölmersen zur Thematik „Europa“ (dessen theologisches Erbe und Relevanz für die Zukunft in internationalem Horizont) geplant ist. Merken Sie sich diese beiden Termine bitte vor.

Danken möchte ich besonders unserem Theologischen Referenten Dr. Herbert Klement für die solide und kontinuierliche Begleitung des AfeT auch im zurückliegenden Jahr und den beiden Herausgebern unseres Jahrbuchs 2000 Dr. Heinz-Werner Neudorfer und Dr. Jochen Eber. Soweit sie diesen Band nicht als Mitglied erhalten, möchte ich Ihnen die Anschaffung sehr empfehlen – es lohnt sich.

Herzlichen Dank für alle Fürbitte und Spenden, durch die Sie unsere Arbeit mittragen.

In der Verbundenheit des Glaubens und Dienstes grüßt Sie

Ihr(gez. Rolf Hille)

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 6/2 (2000)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie

19.11.2000
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