Von der „Hermeneutik Richard Simons“ bis zu den „Avot de Rabbi Natan A und B“

Jahrestreffen der Facharbeitsgruppe Neues Testament

Armin D. Baum

Am 15. und 16. März 2004 traf sich die neutestamentliche Facharbeitsgruppe des AfeT zu ihrer Frühjahrstagung im Theologischen Seminar Tabor in Marburg. Mit etwa 25 Teilnehmern war das Treffen erfreulich gut besucht.

Als Gastreferent sprach der katholische Neutestamentler Prof. Dr. Marius Reiser von der Universität Mainz kompetent und engagiert über „Richard Simons biblische Hermeneutik“: Richard Simon (1638–1712) wurde seit der Abfassung seines mehrbändigen Hauptwerks (Histoire Critique) zum Alten und Neuen Testament von vielen als Ketzer gebrandmarkt, jedoch zu Unrecht. Für Simon waren die heiligen Schriften inspiriert und die Wahrheiten der Schrift unfehlbar. Allerdings erforschte er die biblischen Texte auf der Basis dieser Grundüberzeugung mit wissenschaftlichen Methoden. Bei der textkritischen oder philologischen Arbeit bemühte er sich um strenge Vorurteilslosigkeit. Gleichzeitig band er die theologische Interpretation der Bibel bewusst an die kirchliche Tradition bzw. die regula fidei. Reiser bedauerte, dass an Stelle von Simon bis heute Johann Salomo Semler als eigentlicher Vater der modernen Bibelwissenschaft angesehen werde, der die Inspirationslehre und den Bezugsrahmen der kirchlichen Tradition aufgegeben hat, und plädierte für eine Rückbesinnung auf die hermeneutische Konzeption Simons. Die anschließende Diskussion drehte sich nicht zuletzt um den Stellenwert der regula fidei und ihr Verhältnis zum protestantischen Prinzip des sola scriptura.

Das zweite Referat von Pastor Rüdiger Fuchs (Lensahn) behandelte, anknüpfend an die 2003 erschienene Monographie des Referenten (Unerwartete Unterschiede), „Die sprachliche Anpassung der Pastoralbriefe an ihre Adressaten“. Innerhalb des Corpus Paulinum stellten die drei Pastoralbriefe eine wesentlich inhomogenere Briefgruppe dar, als häufig angenommen wird. Die Timotheusbriefe waren an einen Juden gerichtet, der Titusbrief an einen Griechen. Darum seien beispielsweise die alttestamentlichen Bezüge in den Timotheusbriefen stärker als im Titusbrief. Titus habe unter neugetauften, Timotheus unter fortgeschrittenen Christen gearbeitet. Deswegen stelle der Titusbrief, im Unterschied zu den Timotheusbriefen, die Gotteslehre der Christologie voran. Dem Autor der Pastoralbriefe habe folglich daran gelegen, sich bei der Präsentation seiner Botschaft auf die Voraussetzungen seiner Adressaten einzustellen. Darin sei er modernen „Anknüpfungstheologen“ wie Bill Hybels und Rick Warren ähnlich. In der anschließenden Diskussion wurde die Anregung formuliert, die zahlreichen Einzelbeobachtungen durch Gegenproben zu überprüfen bzw. abzusichern.

Dr. Heinrich von Siebenthal (Gießen) stellte in seinem Beitrag die Frage, nach welchen Regeln Simultandolmetscher altgriechische Texte übersetzen würden. Dabei knüpfte er an das Konzept des Altphilologen Dr. Otto Wittstock an, der seine als Simultandolmetscher und in der Ausbildung von Dolmetschern gewonnenen Erkenntnisse für den Umgang mit lateinischen und griechischen Texten fruchtbar gemacht hat: Rund 75% der Wörter eines Textes können bei der Übersetzung in eine andere Sprache in derselben Reihenfolge wiedergegeben werden. Wie mit den übrigen Wörtern zu verfahren ist, lässt sich mit wenigen Grundregeln beschreiben, die leicht erlernbar sind. So muss beispielsweise das Prädikat eines griechischen Nebensatzes in der deutschen Übersetzung ans Satzende gerückt werden. Mit dieser Methode könne man im Griechischunterricht bereits sehr früh mit der Arbeit an neutestamentlichen Texten beginnen, die man im Sinne einer „modifizierten Interlinearübersetzung“ aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt. Wie das praktisch funktioniert, veranschaulichte der Referent mit Hilfe einer Computerpräsentation anhand einer Reihe griechischer Beispieltexte.

Am Dienstag sprach Dr. habil. Roland Deines in einem wirkungsgeschichtlichen Referat über „Die jüdische Rezeption von Mt 5,17 von der Antike bis zur Gegenwart“: Die Bergpredigt (besonders Aussagen wie Mt 5,17 und Mt 7,12) hat in der Auseinandersetzung des Judentums mit dem Christentum von Anfang an eine zentrale Rolle gespielt. Schon Justin ließ seinen jüdischen Gesprächspartner klagen, die Christen missachteten die Gebote Gottes und die Bergpredigt überfordere den Menschen. Später forderte man von jüdischer Seite die Judenchristen auf, die mosaischen Vorschriften ganz aufzugeben, da Jesus das jüdische Gesetz insgesamt verworfen habe. Andere Juden argumentierten, weil Jesus Mose als den größeren Lehrer anerkannt habe, müsse jeder Jünger Jesu auch die Tora halten. Eine Monographie des Referenten zu diesem Thema wird 2005 im Neukirchener Verlag erscheinen. Deines selbst interpretiert Mt 5,17 heilsgeschichtlich. Der Messias ist gekommen, um die Gerechtigkeit zu bringen, die der Mensch durch das Gesetz nicht empfangen kann.

Abschließend referierte Dr. Armin D. Baum (Gießen) über „Avot de Rabbi Natan A und B als Analogie zur synoptischen Frage“: Das Verhältnis zwischen den beiden Fassungen des rabbinischen Traktats ARN ist dem Verhältnis, das zwischen den neutestamentlichen Evangelien besteht, erstaunlich ähnlich. Die Wortlautidentität zwischen ARN A und B liegt bei gut 35% und ist damit ähnlich gering wie in den synoptischen Doppeltraditionen. Die Werte für die Wortlautübereinstimmung der einzelnen Parallelperikopen von ARN A par B divergieren noch etwas stärker als dies in den synoptischen Paralleltraditionen der Fall ist. So unterschiedliche antike Autoren wie der Chronist oder Josephus haben ihre schriftlichen Vorlagen wesentlich einheitlicher paraphrasiert. Diese und andere Beobachtungen sprechen dafür, für ARN A par B und die synoptischen Paralleltraditionen eine ähnliche Entstehungsgeschichte anzunehmen. Die These, beide Textgruppen seien im Wesentlichen als schriftlicher Niederschlag einer relativ flexiblen mündlichen Tradition zu betrachten, bot allerdings Anlass zu einer kontroversen Diskussion.

Der Austausch über Neuerscheinungen war vor allem dem u.a. von Prof. Carsten Peter Thiede herausgegebenen Buch Antike Kultur und Neues Testament (2003) und einem von Dr. Helgo Lindner vorgetragenen Rückblick auf Publikationen und Veranstaltungen zum Otto-Michel-Gedenkjahr gewidmet. Die Entscheidung, die Treffen im Jahresrhythmus durchzuführen, hat sich bewährt. In Zukunft soll die internationale Komponente der Arbeitsgruppe verstärkt werden. Das nächste Treffen der neutestamentlichen Facharbeitsgruppe wird am 14. und 15. März 2005 stattfinden.

 
aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 10/1 (2004)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie
13.09.2004 – http://www.afet.de