AFETE – Association Francophone Européenne de Théologiens Evangéliques

Vom 11. bis zum 12. September 2002 trafen sich erstmalig evangelikale Theologen in Frankreich zu einer theologischen Studienkonferenz. Die Initiative ging dabei aus von der Faculté Libre de Théologie Evangélique de Vaux-sur-Seine und der Faculté Libre de Théologie Réformée d’Aix-en-Provence, Tagungsort war das Institut Biblique de Nogent-sur-Marne in der Nähe von Paris. Das Thema der Konferenz war „Evangelikale Identität“. Am Ende der Konferenz wurde eine Arbeitsgruppe berufen, die die Gründung einer Vereinigung von französischsprachigen evangelikalen Theologen vorbereiten sollte. Die Ziele sind ähnlich wie die des deutschen AfeT, der schweizerischen AfbeT oder der europäischen FEET: Vorbereitung von theologischen Konferenzen und Förderung der regelmäßigen Verbindung unter evangelikalen Theologen. Für den 6. und 7. September 2004 ist die nächste Konferenz geplant, wieder im Institut Biblique de Nogent-sur-Marne. Auf dieser Konferenz soll die Gründung der Association Francophone Européenne de Théologiens Evangéliques (AFETE) erfolgen. Von der letzten Konferenz erhielten wir folgenden Bericht von Martin Slabbekoorn.

Was ist evangelikal?

Offensichtlich sind Fragen der Identität in Mode gekommen und die Evangelikalen sind keine Ausnahme. Vom 11. bis 12. September 2002 haben die beiden freien theologischen Fakultäten in Aix-en-Provence und in Vaux-sur-Seine zu einer Konferenz eingeladen. Sechzig Teilnehmer aus dem französischsprachigen Europa trafen sich zwei Tage in dem Bibelinstitut von Nogent-sur-Marne, um über „Evangelikale Identität“ zu diskutieren.

Der erste Tag brachte eine Überraschung. Statt das Thema theologisch anzugehen, startete man mit einer interdisziplinären Vorgehensweise, indem der Historiker Sébastien Fath vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und die Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger von der l’École des Hautes Études en Sciences Sociales ihre Außenwahrnehmung der Evangelikalen darstellten. Vorteile und Grenzen eines solchen sozio-historischen Vorgehens wurden anschließend lebhaft diskutiert.

Sébastien Fath ging im Anschluss an S. Bebbington von vier Kriterien für evangelikale Identität aus: (a) die Betonung der Bekehrung, (b) ein Biblizismus, (c) die zentrale Bedeutung des Kreuzes und (d) ein Engagement, das bei der individuellen Bekehrung erkennbar ist. Diese evangelikale Identität speist sich aus vier großen Epochen: (1) der Reformation, (2) den Erweckungsbewegungen zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, (3) dem amerikanischen Fundamentalismus und der Pfingstbewegung am Ende des 20. Jahrhunderts, sowie (4) der organisatorischen Vernetzung der evangelikalen Bewegung nach 1950 (bereits als Geschichte referiert!). Eine ungewohnte These S. Faths war die, dass er die evangelikale Bewegung als eine demokratische Variante protestantischer Mystik ansah. Er stützte dies u.a. darauf, dass (a) die Evangelikalen eine persönliche Beziehung mit Gott betonen (besonders bei den Pietisten, Pfingstlern, Quäkern), (b) sie die Historie zu einem gewissen Maße abwerten (manchmal mit einer exklusiven Hervorhebungaktueller Erfahrung verbunden mit einer Unkenntnis der historischen Wurzeln der heutigen evangelikalen Kirchen), sowie (c) durch den Vorrang einer veränderten Lebensführung vor der theologischen Reflexion (manchmal mit einer spürbaren Abneigung gegenüber der Theologie und den Theologen). Eine gewisse Spannung besteht nach seiner Wahrnehmung zwischen der Rolle der Institutionen, die im Gegensatz zum katholischen Mystizismus wenig ausgeprägt ist, und einer nichtsdestotrotz gegebenen realen starken Verpflichtung durch die Gemeinde, die Denomination und die Lehrtradition. – In der Diskussion ergänzte S. Fath, dass mit der Ausarbeitung einer Lehre der biblischen Unfehlbarkeit (und der Chicago-Erklärung) die Evangelikalen eine Art protestantisches Lehramt geschaffen hätten. Zumindest würde die Rolle des Wortes Gottes für eine objektive und absolute Norm durchweg geteilt.

Danièle Hervieu-Léger unterstrich aus soziologischer Perspektive die Konvergenzen zwischen dem derzeitigen Evangelikalismus und der Postmoderne. Soziologen haben sich für die evangelikale Bewegung vor allem seit dem Entstehen der Moral Majority im politischen Amerika interessiert, sowie seit dem Aufkommen der Pfingstkirchen in den Ländern, die traditionell als katholisch angesehen wurden. Die Beziehungen zwischen den Evangelikalen und dem modernen Zeitgeist zeige sich (a) im Individualismus (den man auf die Reformation zurückführen kann, ohne dabei katholische Vertreter wie Saint Jean de la Croix zu vergessen), (b) in dem Modell einer eher begleitenden als administrativen Spiritualität, und (c) in der Betonung einer aktuell-pragmatischen Spiritualität. Für D. Hervieu-Léger zielt das Anliegen der Evangelikalen auf eine Veränderung im täglichen Leben, die auf die Bekehrung folgt. Wenn unter den Pentekostalen Gefühle und Erfahrungen eine vorrangige Rolle spielen, lässt sich nicht leugnen, dass die klassische evangelikale Idee einer einzigen absoluten Wahrheit sich in das postmoderne Empfinden einfügt, auch wenn zu diesen Traditionen Spannungen bestehen blieben.

Dies wurde in der Diskussion in mehreren Beiträgen aufgegriffen und betont, dass an der Bedeutung objektiver Wahrheit festzuhalten sei. Die Rolle des Wortes Gottes sei die der Norm und Vermittlungsinstanz der Wahrheit. Es zeigte sich, dass die Teilnehmer weniger als die Referentin von dem Maß der Konvergenz zwischen den zeitgenössischen religiösen Erwartungen und den evangelikalen Überzeugungen beeindruckt waren. Nach D. Hervieu-Léger zeige sich außerdem für Soziologen eine Globalisierung des Religiösen, die an den globalen Wirtschaftsmarkt erinnere. Diese führe zu einer Standardisierung der angebotenen religiösen Produkte. Sie nannte Beispiele aus Guatemala. Dazu gehöre der Gebrauch der Medien, die Personalisierung des Angebots und eine unverblümte Einstellung zur Gewinnorientierung. Sie halte es auch nicht für utopisch, dass sich die oft beobachtete soziologische Spannung evangelikaler Gemeinden zwischen Ausgrenzung und Integration auflöse, da evangelikale Lebenshaltungen im Wesentlichen spirituell seien. ine stärkere Protesthaltung sei auch denkbar. Darüber hinaus vermutete sie eine besondere Attraktivität evangelikaler Einstellungen für Immigranten in den großen Städten, die deshalb eines Tages auch bei den Politikern auf Interesse stoßen könnte.

Der Nachmittag diente der Diskussion der beiden Referate, die sehr lebhaft und engagiert zunächst an einem runden Tisch von Vertretern der theologischen Fakultäten und anschließend im Plenum geführt wurde. Der zweite Tag brachte den Teilnehmern das eigentliche theologische Gespräch. Der Einstieg geschah in der Form eines Dialogs zwischen den beiden Senior-Leitern der einladenden Fakultäten, den Professoren Pierre Berthoud und Henri Blocher. Dies hat in dieser Form erstmalig stattgefunden und war für die französische evangelikale Bewegung von großer Bedeutung und ein Höhepunkt der Zusammenkunft.

Pierre Berthoud erinnerte daran, dass das Zentrum evangelikaler Theologie durch den doppelten Bezug zu Christus und zur Schrift charakterisiert ist. Darin ist sie nicht innovativ, sondern befindet sich in einer langen Tradition, die bei den Aposteln beginnt und über die Reformation hinaus reicht. Er benannte unterschiedliche Formen, „evangelikal“ zu definieren und bezog sich vor allem auf John Stott, James Packer und den Philosophen Francis Schaeffer. Als unverzichtbare Punkte, die Evangelikale klären müssen, wenn sie ihren Glauben nicht von der Vernunft trennen wollen, nannte er: „Gott und freier Wille“ (mit den theologischen Varianten zwischen Calvinismus und Arminianismus), „Zufall und Geschichte“ (Gott ist eine letzte Realität), „Heiligkeit und Liebe“, „Gutes und Böses“… Bei Schaeffer gehören diese Polaritäten zu einem gewissen Grad notwendig in der Spannung und sind untereinander verknüpft, z.B. sind „Einheit und Vielfalt“ im Verhältnis zu Gott (Trinität) verbunden mit dem Glauben, dass das Handeln in der Geschichte einen Sinn hat und dass Gott die letzte Realität hinter dem Ablauf der Geschichte ist. John Stott hat zur Beschreibung evangelikaler Essentials einen trinitarischen Ansatz gebraucht: Der Vater offenbart sich den Menschen und inspiriert die Schrift (hier ist Irrtumslosigkeit begründet), der Sohn zeigt und erfüllt das Heil, der Heilige Geist prägt und verändert sowohl den einzelnen wie auch die christliche Gemeinde. James Packer schließlich nennt drei Punkte als für Evangelikale charakteristisch: die Notwendigkeit der Bekehrung, die entsprechende Priorität der Evangelisation (tatsächlich hat die evangelikale Geschichte neben der Chicago-Erklärung auch die Lausanner Verpflichtung und das Manifest von Manila als bedeutende Beiträge evangelikaler Theologie des 20. Jahrhunderts hervorgebracht), und die Bedeutung der brüderlichen Gemeinschaft. John Stott hat die letzten drei Punkte als Ergänzung zu seinem trinitarischen Ansatz übergenommen.

In seiner Antwort schlug Henri Blocher vor, die Evangelikalen als die wahren Erben der Reformation anzusehen, trotz des gegenteiligen Anscheins, dass die Reformation als Erbe des patristischen und des mittelalterlichen Christentums anzusehen ist, und diese sich als wahre Fortsetzung der an Israel offenbarten Religion begreifen. Die unterschiedlichen Definitionen machen deutlich, dass das Herz evangelikaler Theologie eine Reihe von homogenen und kohärenten Überzeugungen darstellt. Blocher beschrieb die Systematik evangelikaler Theologie in konzentrischen Kreisen. Im Zentrum stehen die Lehren sine qua no, dazu gehören (a) die historischen Bekenntnisse der großen ökumenischen Konzile (Nicenum-Constantinopolitanum etc), (b) die Lehre von der zentralen Rolle des Kreuzes und der stellvertretenden Sühne, sowie (c) die drei sola der Reformation. Ein zweiter Kreis entsteht durch die Lehren, zu denen es Differenzen gibt und die nicht die Anerkennung der ganzen evangelikalen Theologie haben. Dazu gehören die Diskussionen um Schöpfung und Evolution, Endzeitlehren, das Verhältnis von Staat und Kirche etc. Blocher erinnerte daran, dass die großen Lehrüberzeugungen des ersten Kreises heute durchaus nicht mehr in allen Kirchen geteilt würden und dies auch die Einheit evangelikaler Christen erschüttern könne. In einem dritten Kreis sah er Unterschiede zwischen «strikten» und «weiten» Evangelikalen.

In seiner Antwort erinnerte Pierre Berthoud an die Rolle, die der Kontext spielt. Als Glied einer evangelikalen Gemeinde oder einer Kirche mit historisch-protestantischer Prägung wird man andere Prioritäten setzen als wenn man nicht dazu gehörte. Wenn Gott und sein Wort als Zentrum christlicher Orientierung gelten, dann bestimmt das u.a. auch die Art und Bewertung unserer Erfahrung. Dieses Thema verdient es, theologisch debattiert zu werden, vor allem in einer Zeit, in der Erfahrung als vorrangig für die Identität erscheint. Aus diesem Grund haben es die Teilnehmer bedauert, dass nur wenige pentacostale Theologen dabei sein konnten. Die Beziehung Geist-Wort-Erfahrung-Gemeinde / Kirche ist ein Thema, das für alle von zentraler Relevanz ist und das nicht nur in diesen Milieus verstanden wird. P. Berthoud erinnerte daran, dass der Heilige Geist nicht nur mit Kraft zu verbinden ist, er ist ein Weisheitslehrer.

Kontakt: Sylvain Romerowski, Institut Biblique, 39 Grande Rue, 94130 Nogent-sur-Marne, Frankreich. E-Post: contact.afete@laposte.net

 
aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 10/1 (2004)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie
12.09.2004 – http://www.afet.de