Rolf Hille

Rolf Hille: Editorial ETM 9/2 (2003)

Liebe Freunde, im AfeT!

„Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach.“ So fordert uns der Hebräerbrief auf. Und als Arbeitskreis für evangelikale Theologie gedenken wir in diesem Jahr eines „Hebräers“, der als einer der ganz wenigen Hochschullehrer seit der Gründung des AfeT Mitglied war und unsere Arbeit tatkräftig begleitet und gefördert hat, nämlich Otto Michels. Er wäre am 28. August 100 Jahre alt geworden, und der Otto-Michel-Arbeitskreis hat aus Anlass dieses Jubiläums am 18. Oktober im Albrecht-Bengel-Haus einen Studientag zur Würdigung von Michels Lebenswerk durchgeführt. Michel hat bereits 1952, als es um die Berufung des Bultmannschülers Ernst Fuchs nach Tübingen ging, deutlich die kritische Auseinandersetzung mit dem Programm zur Entmythologisierung des Neuen Testaments aufgenommen. Er, der sich im Kirchenkampf der 30er Jahre der Bekennenden Kirche angeschlossen hatte, sah in der Nachkriegstheologie neue geistliche und theologische Krisen aufbrechen, denen er sich als biblisch geprägter Hochschullehrer entgegenstellte. Gegen die Auflösung der Geschichte verstand er sich als „Hebräer“, der mit dem Alten Testament an dem Gott, der schafft und erwählt, der redet und handelt, festhielt. Otto Michel hat in jenen frühen Jahren begonnen, der damals entstehenden evangelikalen Theologie Profil zu geben: als Mitbegründer und Referent bei den Ferienseminaren der Pfarrer-Gebets-Bruderschaft, bei der Gründung des Bengelhauses in Tübingen nach dem Vorbild der Konvikte in Halle und später bei der Entstehung des AfeT als theologischem Forum und als akademischer Dienstgemeinschaft auf der Grundlage der Evangelischen Allianz. (Lesempfehlung: Helgo Lindner (Hrsg.), „Ich bin ein Hebräer“ – Zum Gedenken an Otto Michel (1903–1993), Gießen: Brunnen 2003).

Heinrich Kemner ist ein zweiter Theologe, der in diesem Sommer 100 Jahre alt geworden wäre. Er ist einer der herausragenden Erweckungsprediger und Evangelisten des 20. Jahrhunderts gewesen, der Zeit seines Dienstes eine missionarisch fundierte Bibeltheologie gefördert hat. Nicht zuletzt durch die Studienarbeit des Geistlichen Rüstzentrums in Krelingen half er in der Eingangsphase des Sprachenlernens vielen jungen Theologen zu einer erwecklichen Ausrichtung. Wir gedenken in diesem Heft in einem Artikel des Lebenswerkes Heinrich Kemners, der in Krelingen mehrfach an AfeT-Studienkonferenzen aktiv mitwirkte.

Als AfeT blicken wir dankbar auf eine inhaltlich gewichtige Studienkonferenz vom 14. bis 17. September 2003 im Allianzhaus in Bad Blankenburg zurück. Die Tagung war der Theologischen Anthropologie gewidmet und stand unter der Fragestellung: „Was ist der Mensch?“ Nun steht seit der anthropozentrischen Wende, die Europa im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus vollzogen hat, der Mensch im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Keine Generation hat mehr über den Menschen und seine Gesellschaft gewusst wie die unsere. In Medizin, Genetik, Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Philosophie wendet sich der Mensch ganz sich selbst zu und versucht das Rätsel seiner Existenz zu lösen. Aber sein Geheimnis bleibt ihm trotz allen höchst differenzierten Detailwissens verborgen. Nicht nur im Blick auf die Gottesfrage oder hinsichtlich des Weges der Erlösung sind wir auf Offenbarung angewiesen, sondern gerade auch in der Frage nach der Abgründigkeit unserer eigenen Existenz. Die theologische Anthropologie führt protologisch zu den Anfängen der Schöpfung und macht dem gegenwärtigen Menschen in seiner Verunsicherung deutlich, wie er in Gottes Absicht ursprünglich gedacht war und weshalb die Grundlage wahrer Humanität in der Gott­eben­bild­lich­keit und damit der Sehnsucht nach Gott begründet ist. Dem schöpfungstheologischen Ansatz korrespondiert die eschatologische Bestimmung des Menschen auf Gott hin und die Vollendung des Lebens im kommenden Reich Gottes. Die gegenwärtige Sinnkrise wurzelt wesentlich in der Ziellosigkeit des modernen Selbstverständnisses und damit in der Angst vor der eigenen Endlichkeit und Nichtigkeit des Lebens. Wenn der Mensch jedoch durch das Evangelium entdeckt, dass er dazu bestimmt ist, in das Bild Christi umgestaltet zu werden, findet er nicht nur seine Zielorientierung, sondern auch das Maß seiner gegenwärtigen Existenz. Es ist eben nicht der vorfindliche und entwurzelte Mensch das Maß aller Dinge, sondern Christus, in dem uns Gott in Person offenbart ist. Das Wort der Schrift führt zur Apokalypse, d. h. Enthüllung des Menschen. Es deckt unter der Verkündigung des Gesetzes dem Menschen seine Sünde auf und beraubt ihn so aller hybriden Illusionen über sich selbst, und es gibt ihm durch das Evangelium von der freien Gnade Gottes seine endgültige und unverlierbare Würde.

Die grundlegenden Einsichten des Glaubens müssen gerade heute in das technische und unüberschaubare Detailwissen über den Menschen, von denen die Humanwissenschaften bestimmt sind, hinein verkündigt werden; – und zwar zum zeitlichen Wohl und ewigen Heil des Menschen. Dieser Aufgabe haben wir uns mit der diesjährigen Studientagung gestellt und wollen ihre Ergebnisse auch in dem demnächst erscheinenden Berichtsband dokumentieren.

Ich wünsche Ihnen allen Gewinn für die aktuellen anthropologischen Diskussionen, in denen wir stehen. Weil der Mensch sich zuerst und vor allem für sich selbst interessiert, ist die theologische Anthropologie die Forschungsrichtung, die Türen der Aufmerksamkeit für die umfassende Botschaft der Heiligen Schrift öffnen kann.

Seien Sie mit herzlichem Dank für alle Unterstützung des AfeT aus Tübingen gegrüßt

Ihr(gez. Rolf Hille)

 
aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen – ETM 9/2 (2003)
Herausgeber: AfeT – Arbeitskreis für evangelikale Theologie
07.03.2004 – http://www.afet.de