Leben und Denken im Bodelschwingh-Studienhaus

Hans-Jürgen Peters

Alles, was wächst, hat seine Wurzeln. Man muss bereits etwas älter sein, um sich an die Anfänge erinnern zu können. Das Bodelschwingh-Studienhaus in Marburg ist Teil einer studienbegleitenden Arbeit, die auf einen geistlichen Aufbruch unter Theologiestudenten in Bethel zur Zeit der „wilden 68er Jahre“ zurück geht. Es waren nicht von der Idee des Kommunismus verzauberte Studenten, die die bürgerliche Gesellschaft im Blick auf das erträumte Paradies verändern wollten. Es waren Studenten, die ihrem Herrn Jesus dienen und sich durch ihr Theologiestudium auf ihren späteren Dienst vorbereiten wollten. In eisiger akademischer Kälte waren sie in ihrem jungen Vertrauen durch die Infragestellungen der Bibelkritik verunsichert und gleichzeitig fest entschlossen, nach einem Weg zu suchen, auf dem sie ihr kleines Boot durch stürmische Zeit über aufgewühltes Meer steuern können. Man war zunächst ratlos und versuchte durch gemeinsames Gebet und gegenseitige Ermutigung durchzukommen. Man merkte, dass man den Kampf nicht würde bestehen können, wenn es nicht gelänge, der Sache – wie damals üblich – an die Wurzeln zu gehen. Wo stand die Wiege des Denkens, das an den deutschen Universitäten zum status quo akademischen Denkens und Arbeitens geworden war? Was war im Laufe der Zeit geschehen, dass nun junge Menschen, die sich auf einen geistlichen Dienst vorbereiten und tiefer in die Geheimnisse der Heiligen Schrift eindringen wollten, derart verunsichert, mutlos und glaubensmatt ihr erstes Semester beschließen mussten?

Die Ferien brachten neue Perspektiven. Hinter den großen Bergen, auf den durch das mediterrane Klima verzauberten Hügeln des Tessins, trafen zwei befreundete Studenten mit einer Frau zusammen, die dort ein Freizeitheim „Casa Dio aiuta“ (Haus Gott hilft) leitete. Es war eine geistliche wache Persönlichkeit, die unter der Kirche und ihrer Pfarrerschaft zu leiden begonnen hatte und innerlich beschlossen hatte, aus der Kirche auszutreten. Man kam ins Gespräch. Die Studenten erzählten von ihren deprimierenden Erfahrungen im ersten Semester. Der „Mutter“ des Hauses – sie war eine wirkliche Mutter – wurde deutlich, dass eine der Ursachen für die Vollmachtlosigkeit der Kirchen in der Ausbildung der Theologiestudenten liegt. Und sie freute sich über diese jungen Menschen, die sich davon nicht gefangen nehmen lassen und einen geraden geistlichen Weg gehen wollten. Eine Idee war spontan geboren: Während der Wintermonate steht das Freizeitheim leer, Saison ist von März bis Oktober. Zum Selbstkostenpreis könnten Studenten dort unterkommen. Ein Semester lang „aussteigen“ und gründlich nachdenken – würde sich das lohnen? Wäre das verantwortbar? Wer würde da mitmachen? Wer könnte bei der Suche nach hilfreichen Antworten helfen?

Die Zeit war offen für unkonventionelle Wege. Das Nötige war bald unbürokratisch in die Wege geleitet. Für ein ganzes Semester fanden sich ca. 15 Studenten im Tessin ein, um sich geistlich stärken zu lassen, um Orientierung zu suchen, um Hintergründe zu verstehen. Auf ihrem Weg begleiteten sie Lehrer, die ebenfalls abseits der akademischen Lehrpfade nach Wegen zu einer geistlichen Schriftauslegung suchten: Pfr. Sven Findeisen, Mag. Hellmuth Frey, Prof. Walter Künneth, Armin Sierszyn. Im Hintergrund historisch-kritischer Exegese zeigten sich nicht nur methodische Engführungen, sondern geistliche Fehlentscheidungen. Es wurde deutlich, dass es nicht reicht, hier und da Kritik zu üben und vorsichtige wissenschaftliche Korrekturen am gegenwärtigen Weg vorzunehmen. Es wurde deutlich, dass es nicht genügt, eine evangelikale Alternative in den bestehenden Denkrahmen einzubringen. Der Denkrahmen selber erwies sich als das eigentliche Problem, das es zu überwinden galt. Es ging wie ein Ruck durch die Studenten: wenn wir nicht umkehren und Buße tun in unserem Denken, dann werden wir nicht zu Hirten, sondern zu Verführern der Gemeinde Jesu. Es geschah so etwas wie „Seelsorge auf dem Felde des Denkens“.

Es war eine Initialzündung. Von dem abgelegenen Örtchen Pura im Tessin ging eine Bewegung aus, die bis heute spürbar ist. Seit nunmehr 35 Jahren finden in Pura zweiwöchige Seminare für Theologiestudenten statt, in der die Impulse der Anfangszeit aufgenommen und weitergedacht werden.

In der Lüneburger Heide entstand aus demselben Impuls heraus das Vorstudiensemester in Krelingen, das von Sven Findeisen aufgebaut und geprägt wurde. Die Krelinger Studenten verteilten sich an den Universitäten, bildeten kleine Gruppen, in denen man betete und diskutierte und sich gegenseitig stützte in der schwierigen Auseinandersetzung mit dem, was einem an der Uni begegnet. Später sind daraus Theologiestudentenkreise an den meisten deutschen theologischen Fakultäten entstanden. Einmal im Jahr – am Wochenende des Volkstrauertags – treffen sich die Studenten in der Evangeliumshalle in Wehrda (Marburg) auf der sog. „Marburger Tagung“, um Erfahrungen auszutauschen, um Kontakte zu knüpfen und um über aktuelle Herausforderungen nachzudenken.

Die Theologiestudentenkreise, Tagungen und Seminare werden vom Arbeitskreis geistliche Orientierungshilfe (AgO) betreut, koordiniert und veranstaltet. Der AgO hat eine nicht hierarchische Struktur im Stil der Netzwerke der 70er und 80er Jahre. Das Geheimnis der studienbegleitenden Arbeit liegt in den studentischen Eigeninitiativen.

Eine dieser Initiativen ist die Zeitschrift ICHTHYS, die 1985 ins Leben gerufen wurde. Zunächst eine Zeitschrift von Studenten für Studenten ist ICHTHYS zu einer Publikation geworden, in der theologisch interessierte Leser – und nicht nur Studenten – Orientierung und Hilfestellung für Theologie und Kirche, Seelsorge und Studium, Denken und Praxis finden. Sicherlich eine der immer noch in ihrer Bedeutung unterschätzten Veröffentlichungen, die über Jahre hin ihre Qualität halten und verbessern konnte.

Die jüngste Initiative des AgO ist der AgOLA, der gezielt Studierende der Theologie auf Lehramt (LA) anspricht. Sie benötigen ein besonderes Forum, um ihre spezifischen Fragen ansprechen zu können, für deren Klärung ihnen naturgemäß viel weniger Zeit zur Verfügung steht als denen, die nur Theologie studieren.

Im Bodelschwingh-Studienhaus wohnen 17 Studenten. Die meisten studieren Theologie, einige nehmen aus anderen Studiengängen an unseren Veranstaltungen teil. Wie in anderen Studienhäusern wie z. B. dem Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen oder dem Friedrich-Hauss-Studienzentrum in Schriesheim werden Angebote gemacht, die dazu geeignet sind, Studierende auf ihrem Weg geistlich und menschlich zu unterstützen, so dass sie ihre spätere Aufgabe als Verkündiger, Pastoren, Religionslehrer, verantwortliche Mitarbeiter etc. so ausüben können, dass dadurch Jesus in die Mitte gestellt und die Gemeinde Jesu gestärkt wird. In unseren Seminaren beschäftigen wir uns mit theologischen Grundsatzfragen (wie z. B. der hist.-krit. Methode), mit Fragen der Zeitanalyse, mit Ansätzen zu einer geistlich-theologischen Schriftauslegung, mit Themen im Umkreis von Glaube und Denken, mit Fragen der Seelsorge und Psychotherapie, mit aktuellen dogmatischen und ethischen Fragestellungen.

Das Bodelschwingh-Studienhaus in Marburg
Das Bodelschwingh-Studienhaus in Marburg

Daneben hat in den vergangenen Jahren die seelsorgerliche Begleitung ein größeres Gewicht bekommen. Es genügt heute nicht mehr, Studenten in ihren theologischen Diskussionen den Rücken zu stärken. Es wird zunehmend wichtiger, echte Lebensbegleitung anzubieten. Studenten suchen nach Orientierung in Lebensfragen. Wir bieten dazu Gesprächskreise an (Thema „Über Lebenschancen“), in denen anhand von künstlerischen Elementen – Bildern, Gedichten, Liedern, Filmen, Kurzgeschichten – elementare Lebensbereiche angesprochen werden. Ergänzend dazu werden sog. „Mentoring“-Gespräche angeboten, in denen Studenten die Gelegenheit bekommen, persönliche Fragen anzusprechen: Partnerfragen, Entscheidungshilfen, Studienorganisation, Zeiteinteilung, Vergangenheitsbewältigung, Krisenbegleitung, persönliches Glaubensleben, Umgang mit Menschen. Diese Gespräche haben weniger einen bei den Schwächen ansetzenden „therapeutischen“ als vielmehr einen fördernden Sinn. Sie setzen bei dem an, was in den einzelnen gestärkt und entwickelt werden kann.

Alles wesentliche Lernen geschieht in der Begegnung und im Gespräch. Dafür nehmen wir uns viel Zeit.

Das Bodelschwingh-Studienhaus und die Bodelschwingh-Studienstiftung im Internet: http://www.bshmarburg.de

aus: Evangelikale Theologie Mitteilungen - ETM 8/1 (2002)
Herausgeber: AfeT - Arbeitskreis für evangelikale Theologie

19.12.2007
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